Tschechien erlebt sein blaues Jobwunder

Tschechien plagt ein Luxusproblem: Die gute Konjunkturlage hat den Arbeitsmarkt leergefegt; um über 200.000 ist die Zahl der Erwerbslosen in den vergangenen vier Jahren gesunken. Mit einer Quote von nur noch 3,4 Prozent hatte Deutschlands Nachbar im Januar die niedrigste Arbeitslosigkeit in ganz Europa. Und der Bedarf an noch mehr Mitarbeitern bleibt hoch. Laut Personaldienstleister Manpower will aktuell jedes vierte Großunternehmen im Land neue Jobs schaffen.

Was für die Arbeitnehmer ein Segen ist, stellt die Unternehmen vor enorme Herausforderungen. Fast jeder Betrieb klagt über Fachkräftemangel, Werkserweiterungen werden verschoben, Investitionsprojekte abgesagt. „Die Personalsituation ist sehr angespannt. Viele Firmen in unserer Region suchen händeringend Mitarbeiter, um ihren Auftragsbestand zu bewältigen. Das hemmt definitiv das Wachstum”, sagt Niclas Pfüller, General Manager beim Automobilzulieferer Brose in Ostrava. Zugleich erodieren die steigenden Arbeitskosten die Wettbewerbsfähigkeit des Landes.

„Personal fehlt auf allen Ebenen“, berichtet Milan Šíma, seit 20 Jahren Berater bei der Personalvermittlung Teamconsult in Prag. Gesucht würden nicht nur Fachkräfte, sondern auch einfache Fließbandarbeiter, Qualitätsmanager, Vertriebsspezialisten oder Instandhaltungsmechaniker. „Früher gab es Bewerber um Arbeitsplätze. Jetzt müssen sich die Firmen um einen Arbeitnehmer bewerben“, beschreibt Šíma die Lage.

Im Februar waren über 140.000 offene Stellen bei den Arbeitsämtern gemeldet. Dem standen zwar offiziell 380.000 Arbeitslose entgegen. Doch in manchen Regionen gibt es inzwischen mehr freie Stellen als Erwerbslose, etwa in Pardubice oder am Škoda-Standort Rychnov nad Kněžnou bei Hradec Králové.

Fachkräfte kennen ihren Marktwert sehr genau

Für Kandidaten auf Jobsuche ist das eine Traumkonstellation. „Die Leute kennen ihren Marktwert. Sie wissen, dass die Wirtschaft wächst und dass sie höhere Gehaltsforderungen durchdrücken können“, erklärt Personalexperte Šíma.

Laut Tschechischem Statistikamt sind die Löhne 2016 im Durchschnitt nominal um 4,2 Prozent auf 27.600 Kč gestiegen und erreichten umgerechnet erstmals einen Wert von über 1.000 Euro. In Prag liegen die Gehälter um ein Viertel über dem Landesdurchschnitt. Für weniger als 40.000 Kč unterschreiben dort kaum noch gute Leute mit Fremdsprachenkenntnissen und Berufserfahrung einen neuen Arbeitsvertrag.

Der Konjunkturaufschwung und die niedrige Erwerbslosenquote treiben die Löhne weiter nach oben. Das Finanzministerium rechnet für dieses und für die kommenden zwei Jahre mit einem Anstieg des nominalen Lohnniveaus um jeweils über 4 Prozent. Für Furore sorgt zurzeit Lebensmitteldiscounter Lidl, der das Einstiegsgehalt zum 1. März 2017 gleich um ein Viertel angehoben hatte. Damit verdient eine Kassiererin selbst in strukturschwachen Regionen nun von Beginn an mindestens 23.330 Kč (rund 860 Euro) – mehr als viele Industriearbeiter im Schichtbetrieb bekommen.

Für Headhunter wie Teamconsult bedeutet Tschechiens Jobwunder erheblich mehr Aufwand. „Bei Führungspositionen kann die Suche und der Auswahlprozess jetzt vier bis sechs Monate dauern“, sagt Experte Šíma. Teamconsult-Gründer Oliver Schmitt ergänzt: „Die Leute sind durch die Krise vor einigen Jahren loyaler geworden und nun schwerer abzuwerben. Sie honorieren, dass die Firma in schwierigen Zeiten zu ihnen gehalten hat.“

Besserverdiener suchen Aufstiegschancen und Zusatzleistungen

Laut Schmitt ist nur bei Jobs bis 40.000 Kč die Lohnhöhe das wichtigste Entscheidungskriterium. Bei besser bezahlten Positionen spielten zusätzlich Faktoren wie Personalführung und Hierarchien im Unternehmen, Aufstiegschancen, Dienstwagen, Urlaubstage oder der Ruf der Firma eine entscheidende Rolle.

Die Unternehmen investieren darum viel Geld in das Image als attraktiver Arbeitgeber. „Wir versuchen, die Menschen möglichst gut über unsere überdurchschnittlichen Leistungen und ihre Perspektiven bei Brose zu informieren“, sagt Manager Pfüller. Das soll sich in der Region Ostrava herumsprechen, um so potenzielle Mitarbeiter für den Betrieb zu interessieren.

Von seiner guten Reputation profitiert traditionell Škoda Auto. Laut Personalvorstand Bohdan Wojnar kann der Fahrzeughersteller eine hohe Loyalität der Mitarbeiter vorweisen, eine überdurchschnittlich lange Betriebszugehörigkeit und wenig Fluktuation. „Wir nehmen viel Rücksicht auf die Bedürfnisse der Beschäftigten, auf ihr Alter, die persönliche und familiäre Situation“, nennt Wojnar einen Grund dafür.

Tschechiens Arbeitnehmer suchten heute moderne und hochqualifizierte Arbeitsplätze mit viel Wertschöpfung. „Wir geben ihnen die Möglichkeit, sich persönlich zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen oder bei Projekten im Ausland Erfahrungen zu sammeln“, erklärt Wojnar. Außerdem bietet Škoda Extraleistungen wie Sprachkurse und Krankenversicherungen sowie Erfolgsbeteiligungen.

Dennoch braucht der Autohersteller aus Mladá Boleslav mehr Mitarbeiter. „Derzeit suchen wir Spezialisten für die Produktion, Kfz-Mechatroniker, Lackierer, Schweißer oder Lagerarbeiter“, sagt Personalvorstand Wojnar. Auch in den Bereichen IT, Finanzen, technische Entwicklung und HR seien Stellen vakant. „Natürlich ist der Arbeitsmarkt in Tschechien angespannt. Deshalb wünschen wir uns eine bessere Qualität der Ausbildung, mit einem stärkeren technischen Fokus.“ Helfen könnte, wenn der Staat die Mobilität der Arbeitnehmer fördern würde und die Bereitschaft, für einen neuen Job umzuziehen. Dafür müsste der Mietwohnungsmarkt entwickelt werden, meint Wojnar.

Immer mehr Gastarbeiter drängen auf den Arbeitsmarkt

Ein anderer Ausweg aus der Fachkräftekrise sind Gastarbeiter. Offiziell sträubt sich Tschechien gegen Immigration, doch in der Praxis kommt die Wirtschaft längst nicht ohne Helfer aus Rumänien, Bulgarien oder der Ukraine aus. Rund 400.000 Ausländer arbeiten bereits im Land, angelockt von einem stabilen Umfeld und den für Mittelosteuropa guten Löhnen. „Wenn im Inland langfristig Arbeitskräfte fehlen, führt kein Weg an der Beschäftigung von Ausländern vorbei“, meint Škoda-Personalvorstand Wojnar. Arbeiter aus 40 Nationen stehen bei dem Autohersteller bereits unter Vertrag.

Selbst die Regierung musste erkennen, dass der Konjunkturmotor ohne Zuwanderung ins Stottern käme. Für 2017 erlaubt das Kabinett die Anwerbung von 5.000 Ukrainern. Der deutsche Kfz-Zulieferer Borgers nutzt diese Regelung bereits. Derzeit arbeiten rund 20 Ukrainer in den vier tschechischen Werken des Fahrzeug-Innenraumausstatters. Außerdem sind 1.000 der rund 3.500 Mitarbeiter von Agenturen geliehen, darunter viele Rumänen und Bulgaren. „Mit den Zeitarbeitern können wir die saisonalen Auftragsschwankungen ausgleichen“, erklärt Uwe Hengstermann, Geschäftsführer bei Borgers CS. Mittelfristig plant Borgers allerdings, den Anteil der Leiharbeiter auf zehn Prozent zu begrenzen. „Wir wollen mehr Stammpersonal, denn das ist zuverlässiger und bringt bessere Qualität“, so Hengstermann. Bei den geliehenen Arbeitnehmern sei die Fluktuation sehr hoch.

Borgers produziert an vier Standorten in der Region Plzeň textile Verkleidungen für Kofferraum, Fahrgastraum oder Unterboden. Täglich verlassen rund 200.000 Teile die Werke und gehen an VW, BMW, Mercedes, Porsche, Bentley und Rolls Royce. Bei der Fertigung ist Handarbeit, Erfahrung und Geschick gefragt. Um das Personal zu binden, investiert Borgers deshalb viel Geld. „Wir schauen uns genau an, was die anderen Unternehmen in der Region bezahlen und passen unsere Löhne entsprechend an“, sagt Geschäftsführer Hengstermann. Zusätzlich schickt der Kfz-Zulieferer private Pendelbusse in die umliegenden Dörfer und bringt die Mitarbeiter zur Arbeit. Wer selbst anreist, bekommt Kilometergeld. Sogar einen Heiratsbonus offeriert Borgers. Und für jedes Jahr Betriebszugehörigkeit gibt es zwei Tage Extraurlaub (bis maximal sechs Tage).

Ferienlager, Massagen und elternfreundliche Schichtzeiten

Im Sommer organisiert Borgers Ferienlager für die Kinder der Beschäftigten, schließlich sind in der Fertigung die Hälfte der Beschäftigten Frauen. Ihre Schichtzeiten müssen so getaktet sein, dass die Kitaöffnung oder der Schulschluss mit der Arbeitszeit harmonieren. Die rund 100 Näherinnen bekommen regelmäßig Massagen von erfahrenen Physiotherapeuten.

Ähnliche Maßnahmen ergreift Brose für seine Fertigungsstätten im äußersten Osten des Landes. Das Familienunternehmen produziert in Kopřivnice und Rožnov bei Ostrava mit über 3.400 Mitarbeitern unter anderem Sitzstrukturen, Antriebe für Heiz- und Klimagebläse und Türschlösser. „Der Betriebskindergarten, die Schülerbetreuung am Nachmittag und Ferienausflüge helfen insbesondere, Fach- und Führungskräfte zu gewinnen“, berichtet Geschäftsführer Pfüller. Eine eigene Kantine, Physiotherapie und Gesundheitsvorsorge gehören zum Gesamtpaket, um die Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden. Dafür gab es sogar eine Auszeichnung vom tschechischen Gesundheitsministerium.

Und trotzdem bleibt die Personalsuche schwierig, weil der Arbeitsmarkt in den industriellen Zentren leergefegt ist. Im Großraum Plzeň beteiligt sich Kfz-Zulieferer Borgers deshalb an Jobbörsen, übernimmt Vorträge an der Uni, organisiert Betriebsführungen für Gymnasiasten oder sponsert Warnwesten in Kindergärten. „Damit wollen wir auf uns als attraktiver Arbeitgeber positionieren“, erklärt Geschäftsführer Hengstermann.

Angesichts der gestiegenen Kosten konkurriere Tschechien heute nicht mehr mit Produktionsstandorten im Osten Europas, sondern mit Deutschland. „Darum müssen wir auch hier die Werke stärker automatisieren“, glaubt der Borgers-Manager. Bei Brose in Ostrava sieht Firmenchef Pfüller ebenso den Einsatz von mehr Robotertechnik als einen Ausweg. „Das reduziert den Personalbedarf und die körperliche Belastung am Arbeitsplatz.“

Personalmangel verstärkt Trend zu Automatisierung

Borgers und Brose sind damit in bester Gesellschaft. Denn laut einer aktuellen Umfrage des Personaldienstleisters Manpower will jede siebte Firma im Land in den kommenden zwei Jahren Teile der Produktion automatisieren. Außerdem führt der Personalmangel zu mehr innerbetrieblicher Ausbildung. Škoda Auto macht es in Mladá Boleslav vor und bildet dort in einer eigenen Mittleren Berufsschule für Maschinenbau seinen Nachwuchs selbst aus. Die Schüler bekommen sogar ein kleines Stipendium von bis zu 1.400 Kč im Monat. Anders als sonst in Tschechien üblich, findet ein Teil der Ausbildung direkt in der Produktion statt. Auch Brose qualifiziert an seinem tschechischen Standort die Mitarbeiter immer häufiger selbst.

Ein Gewinner der Arbeitsmarktkrise dürften die HR-Abteilungen der Unternehmen sein, denn Personalplanung bekommt plötzlich eine ganz neue Bedeutung. „Das haben aber noch zu wenige Unternehmen erkannt“, warnt Teamconsult-Chef Oliver Schmitt. „Die HR-Abteilung ist in diesen Zeiten keinr rein administrative Einheit mehr, sondern ein wichtiger Partner für das strategische Management.“

Autor: Gerit Schulze, GTAI

Quelle des ersten Beitragsbildes: Zdeněk Fiedler, CC BY-SA 4.0

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