Das Wort „Czexit“ ist bei uns übrigens verboten

Interview mit Vladimír Dlouhý, dem Präsidenten der tschechischen Wirtschaftskammer

Wirtschaftswissenschaftler, Minister, Berater, Verbandspräsident, ein Wirkungskreis in Europa und Übersee – Vladimír Dlouhý kann irgendwie alles, und er will vielleicht auch alles. Nach der Samtenen Revolution formte er als Wirtschaftsminister die neue Gestalt Tschechiens wesentlich mit. Und auch heute noch gehört er zu den tonangebenden Persönlichkeiten – nicht nur in Sachen Wirtschaft.

 

Gehen wir 25 Jahre zurück: Die wirtschaftliche Transformation und die Coupon-Privatisierung sind in vollem Gange, die Tschechoslowakei hat sich aufgespalten, und es gab zudem gewisse Sorgen vor einem „Ausverkauf“ Tschechiens durch den Westen. Was war das für Sie für eine Zeit?

Die Transformation begann auf einer gesunden Grundlage. Man hört oft, dass die Coupon-Privatisierung erst hätte durchgeführt werden sollen, nachdem der gesetzliche und rechtliche Rahmen abgesteckt ist. Theoretisch stimmt das auch, aber in der Praxis ist es Unsinn. Der gesetzliche und regulatorische Rahmen bildet sich erst innerhalb von Jahren oder vielmehr noch Jahrzehnten heraus. Und beendet ist dieser Prozess nie, wie wir auch bei der Bankenkrise in den USA im Jahr 2008 gesehen haben. Die tschechische Gesellschaft hat damals mehrere Ups und Downs durchlebt. Wir haben ausländischen Investoren den Weg geebnet. Die erste große Investition – bis heute als Erfolg gewertet – war die Übernahme von Škoda durch Volkswagen. Danach haben wir ein bisschen auf die Bremse getreten, und wir meinten, dass wir auch eine Basis von tschechischen Eigentümern und „Kapitalisten“ aufbauen sollten. Nach dem Rücktritt von Premier Václav Klaus und dem Ende der Regierung war dann, zwischen 1997 und 2000, eine andere Zeit gekommen, in der man den „tschechischen“ Weg für einen Fehler hielt. Danach wurden mehr Investitionsanreize geschaffen, und jede Menge ausländisches Kapital floss nach Tschechien. Heute jammert man wieder darüber, dass die großen Unternehmen zu viel Gewinn außer Landes schaffen. Ich meine, die Höhe des Auslandskapitals ist bei uns eigentlich genau richtig. Natürlich wünschte ich mir mehr einheimische Firmen. Aber auch da sind wir auf einem guten Weg: In den letzten vier bis fünf Jahren sehe ich vor allem bei den kleinen und mittelständischen Betrieben einen rasanten Anstieg erfolgreicher Firmen aus Tschechien.

„Als unglaublichen Optimisten bezeichnet”

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Was war die größte Herausforderung zu dieser Zeit?

Am wichtigsten war es, das Privatisierungskonzept nach 1990 durchzusetzen. Dann die Entscheidung über tausende Privatisierungsprojekte. Das waren einzelne Entscheidungen, von denen einige gut, andere schlecht waren. Für die schlechten übernahm man danach die politische Verantwortung. So ist das im Leben.

Haben Sie damals geglaubt, dass sich die tschechische Wirtschaft so positiv entwickeln würde?

Wenn mir 1990 jemand gesagt hätte, dass Tschechien im Jahr 2011, als wir kein großes Wirtschaftswachstum hatten, makroökonomisch stabil ist und Westeuropa unter einer Bankenpleite und Schuldenlast ächzt, wenn mir 1990 jemand gesagt hätte, dass wir 2018 unter anderem einen Haushaltsüberschuss und die niedrigste Arbeitslosenquote in Europa haben, während der Süden Europas mit gewaltigen Problemen zu kämpfen hat, dann hätte ich denjenigen als unglaublichen Optimisten bezeichnet. Wenn mir aber jemand gesagt hätte, wie schlecht die Menschen die politische und gesellschaftliche Situation in den kommenden knapp 30 Jahren empfinden werden – und das nicht nur bei uns – und dass sich die Trumps, Orbáns und Kaczyńskis dieser Welt gegen die Idee der liberalen Marktwirtschaft und offenen Gesellschaft in Stellung bringen, hätte ich denjenigen als außergewöhnlichen Pessimisten bezeichnet. Die wirtschaftliche Entwicklung ist meiner Meinung nach überdurchschnittlich gut, von der Politik allerdings bin ich enttäuscht. Ich weiß aber auch, dass die Eliten und das Establishment, die politischen Parteien, aber auch Menschen wie ich bis zu einem gewissen Maß selbst daran schuld sind.

Im November 1993 richteten die „Hospodářské noviny“ und das „Handelsblatt“ ein Symposium zu den deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen aus. Anlass war die Gründung der DTIHK. Auch Sie sind dort aufgetreten. Erinnern Sie sich noch?  

Natürlich erinnere ich mich daran. Der zweite Redner war Klaus Engelen vom „Handelsblatt“. Mit der Zeitung hatte ich schon vor der Wende zusammengearbeitet. Ich habe hier sogar noch ein Foto von der Veranstaltung.

Was hat die größte bilaterale Auslandshandelskammer aus Ihrer Sicht der Tschechischen Republik gebracht?

Große Investitionen aus Deutschland. Als Präsident der Wirtschaftskammer beneide ich die DTIHK manchmal sogar ein bisschen. Ich wünschte mir, dass wir eine noch stärkere Mitgliederbasis hätten und viele Firmen, die in der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer sind, auch bei uns wären. Auf die Mehrheit trifft das zwar zu, aber es sind eben nicht alle. Von daher halte ich die DTIHK für eine Kammer, die ausgezeichnet funktioniert.

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„Tschechischer Euroskeptizismus eher eine angemessene Reserviertheit”

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Damals waren Sie der Auffassung, Tschechien verfüge über die besten Voraussetzungen, Teil der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Heute ist das Land in der EU. Warum sind viele Tschechen so europaskeptisch? 

Ich meine, wir sind nicht europaskeptisch. Das zeigt sich aktuell an dem Widerstand gegen eine mögliche Regierungsbeteiligung der SPD von Tomio Okamura. Und ich kann Ihnen versichern: Falls es dazu kommen sollte, wird die Tschechische Wirtschaftskammer Stellung beziehen. Zwar steht es uns nicht zu, die politische Entwicklung zu kommentieren, aber wir würden uns mit Nachdruck für einen Verbleib Tschechiens in der EU aussprechen. Aber: Meinen Sie nicht, dass der tschechische Euroskeptizismus in bestimmten Fällen eher eine angemessene Reserviertheit war, die im Nachhinein auch begründet war? Die Tschechen reagierten zurückhaltend auf das überstürzte und übertrieben selbstbewusste Handeln westeuropäischer Politiker in der Frage, wie weit der europäische Integrationsprozess gehen und inwiefern man Europa als einen Staat auffassen kann, so dass man eine gemeinsame Währung einführen kann. Ein Staat definiert sich darüber, dass man sich in ihm vollkommen frei bewegen kann, er aber nach außen in der Lage ist, seine Grenzen zu verteidigen. Und noch nicht einmal diese grundlegende Definition können wir umsetzen. Ungeachtet mancher meiner Positionen möchte ich aber klarstellen, dass ich zu den Ersten gehöre, die sich jedem noch so kleinen Versuch, den „Czexit“ herbeizuführen, in den Weg stellen würden. Das Wort ist bei uns in der Wirtschaftskammer übrigens verboten.

Was ist Ihrer Meinung nach derzeit die Achillesferse der tschechischen Wirtschaft?

Die mangelnde Fähigkeit, neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung in der Industrie umzusetzen. Der technologische Fortschritt basiert zu sehr auf ausländischen Investitionen, hier im Land gibt es zu wenig Anreize, das selbst umzusetzen. Aber im Hinblick auf unsere Industriestruktur können wir keine Wunder erwarten. Wir sollten uns eher an den neuen Bereichen orientieren – Digitalisierung, Elektronisierung, Software, Hardware. Tschechien ist eine Großmacht in der Entwicklung ausgeklügelter Computerspiele. Das ist nur ein Beispiel. Wir müssen so etwas intensiver mit der traditionellen verarbeitenden Industrie zusammenbringen, um bei uns eine viel höhere Wertschöpfung in der Produktion zu erreichen und somit selbständig auch auf die zwei Märkte zu gelangen, die für uns außerhalb Europas am wichtigsten sind – China und die USA.

„Für den anderen Teil der Gesellschaft so unausstehlich”

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Schon lange verfolgen Sie die Entwicklung der tschechischen Gesellschaft und der EU. Wie reif ist die tschechische Zivilgesellschaft?

Wie Sie sehen, es steht gar nicht so schlecht um sie. Die Gesellschaft ist in der Lage, auf die schwierige Regierungsbildung zu reagieren. Das ist keine einfache Frage. Es würde mir leicht fallen, mich mit den Demonstranten auf dem Wenzelsplatz zu identifizieren. Aber die Wahl von Andrej Babiš – ähnlich wie die von Donald Trump in den USA oder von irgendwelchen Handlangern in Italien, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland – reflektiert doch eines: Unsere Zivilgesellschaft kann keine befriedigenden Antworten mehr geben und ist nicht mehr in der Lage, die Probleme der Menschen zu lösen. Nicht dass das liberale Modell einer offenen Welt und freien Wirtschaft für die Menschen nicht attraktiv wäre. Sie haben allerdings das Gefühl, dass nur ein sehr kleiner Kreis von Menschen wirklich davon profitiert. Ich denke nicht, dass das zu hundert Prozent zutrifft. Aber gesprochen als Politiker – und nicht als Präsident der Wirtschaftskammer – ist nicht die Wirklichkeit an sich das entscheidende, sondern wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen wird. Die Zivilgesellschaft ist nicht so schlecht. Aber wir müssen uns die Frage stellen, warum die Repräsentanten der Zivilgesellschaft für den anderen Teil der Gesellschaft so unausstehlich sind. Warum die Menschen Babiš, Zeman und andere wählen. Für diese Frage habe ich keine fertige Antwort parat.

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Ing. Vladimír Dlouhý, CSc, MBA
  • * 1953 in Prag
  • seit Mai 2014 Präsident der Tschechischen Wirtschaftsskammer
  • studierte Wirtschaftsmathematik an der Prager VŠE, promovierte an der Karlsuniversität, Studienaufenthalt an der Katholischen Universität Leuven
  • Mitbegründer des Prognostischen Instituts der Tschechoslowak. Akademie der Wissenschaften
  • Wirtschaftsminister der Tschechoslowak. Föd. Rep.ČSFR (1989-1992) und der Tschechischen Republik (1992-1997)
  • seit 1997 Berater bei Goldman Sachs, Berater der ABB (1998-2010)
  • Lehrtätigkeit an der VŠE und am Institut für Wirtschaftswissenschaften der Karlsuniversität
  • Mitglied mehrerer internationaler Think Tanks
  • Mitglied in verschiedenen Unternehmensbeiräten in Indien, Großbritannien und Frankreich
  • Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrates (2009-2013), des Aufsichtsrats des Illinois Institute of Technology (2000-2012) und der Europ. Beratergruppe des IWF-Exekutivdirektors (2010-2012)

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