„Dieses Knowhow kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Tschechien“

Herr Berger, wie sehen Sie die aktuelle Rolle und Entwicklung der mittelosteuropäischen EU-Länder mit Blick auf die Herausforderungen, denen Europa insgesamt gegenübersteht?

Eine ganze Reihe von mittelosteuropäischen Staaten haben interessante Dynamiken. Noch vor einem Jahr wurde Polen in der deutschen Presse stark kritisiert – „Polen marschiert in die Autokratie“, ist „eine Gefahr für die Demokratie innerhalb Europas“. Doch eine einzige Wahl konnte alles ändern. Während Deutschland über Demokratieverfall klagt, haben Polen und Tschechien gezeigt, wie man Herausforderungen meistert. Dass Osteuropa so unterschätzt wird, ist erstaunlich. Estland, Lettland und Slowenien sind führende Digitalnationen in der EU und nutzen ihre „kleine Größe“, um effektiv zu handeln. Polen hat eine sehr dynamische Wirtschaft. Und wenn ich sehe, wie in Tschechien Ingenieurskunst und Datenmanagement im industriellen Kontext kombiniert werden, kann sich Deutschland da sechs Scheiben abschneiden.

Aus europäischer Sicht dreht sich aktuell alles um die Wettbewerbsfähigkeit in einer neuen globalen Wirtschafts(un)ordnung. Die disruptiven Kräfte, denen Unternehmen ausgesetzt sind, haben in den letzten zehn Jahren zugenommen und globale Dimensionen erreicht. Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien und Südafrika treten mit einem neuen technologie- und rohstoffbasierten Selbstbewusstsein auf, während sich die europäische Politik und Wirtschaft „Nachhaltigkeit“ auf die Fahnen geschrieben haben. Diese Entwicklung sorgt in Europa für viele Sorgenfalten. Zu Recht?

Jein. Gehen wir zurück in die Nachkriegszeit: Die europäische Wirtschaft, insbesondere die deutsche, basierte auf dem Export von Technologie in Entwicklungsregionen, um diese von der Technologie abhängig zu machen. Dieses Modell ermöglichte es Europa, durch langfristige Serviceverträge und Infrastrukturprojekte stabile Marktpositionen zu sichern. Im ersten Jahrzehnt der 2000er stieg der EU-Export nach China um etwa 800 %, im zweiten um 130 %.

Was hat sich inzwischen verändert?

Deng Xiaoping proklamierte 1978 eine langfristige Vision für China bis 2050: bis Ende der 1980er Jahre sollte jeder genug zu essen haben, bis Ende der 1990er Jahre sollte sich das Einkommen im Vergleich zum Ende der 1980er Jahre vervierfachen, bis Ende der 2020er Jahre sollte China in Forschung und Entwicklung auf Augenhöhe mit dem Westen sein und bis 2050 ein pro-Kopf BIP eines durchschnittlichen „Zweite-Welt-Landes“ haben. China hat den Plan übererfüllt und ist laut dem Australian Strategic Policy Institute führend in 27 von 44 Zukunftstechnologien. Indien folgt derzeit einem ähnlichen Wachstumspfad.
Das heißt, die westliche Wirtschaft ist gar nicht mehr in der Lage, vom Geschäftsmodell des Technologieexports oder der Technologieabhängigkeit zu profitieren. Neue Technologien im Maschinenbau, chemischen Engineering und Biotech entstehen zunehmend außerhalb Europas und Amerikas.

Was bedeutet das für Europa?

Wir müssen die Industrie anpassen und neue Partnerschaften mit aufstrebenden Weltregionen eingehen. Die EU hat hervorragende Klimatechnologien, aber gleichzeitig ist China Weltmarktführer im Bereich ClimateTech. China hat einen klaren Plan, bis 2060 vollkommen klimaneutral zu werden…

Zwischenfrage: Warum will China klimaneutral werden? Aus Überzeugung?

China reagiert auf die Herausforderungen durch Umweltverschmutzung und investiert stark in führende Technologien wie Solarenergie, CCS, Elektrolyseure und alternative Kernkraft wie Thorium-Reaktoren. Diese Technologien positionieren China als Weltmarktführer und zeigen, dass das Land erkannt hat, dass die Lösung des Energieproblems entscheidend für die Zukunft ist.

Es wird oft behauptet, dass der Technologie- und Wissenstransfer nach China ein Fehler war. China hat westliche Investoren dazu gebracht, chinesische Partner einzubeziehen und so geschickt Einblick in Technologien genommen. War das ein Fehler?

China strebt danach, wirtschaftlich an die Weltspitze zu gelangen. Man hätte überlegen können, ob man sich auf globaler Ebene und in der Welthandelsorganisation über diese Fragen streitet oder stattdessen einen kooperativeren Weg findet. Wenn man von der ersten Denke ausgeht, dann haben wir einen Fehler gemacht, das zuzulassen. Aber dann hätten wir die Mauern rund um die EU noch höher bauen und China weiter außen vor halten müssen.

Müsste Europa seine Innovationen schneller vorantreiben?

Ja. Und wir müssen auch strategischer denken: Was sind denn die großen Bedürfnisse der Welt in den nächsten 50 bis 100 Jahren? Welche Technologien können einen wesentlichen Beitrag zur Klimamitigation, Wasserbereitstellung und Gesundheit leisten? Können wir in diesen Bereichen mit sich entwickelnden Nationen in ein Co-Development gehen? Das könnte sogar den Austausch von Rohstoffen wie seltene Erden betreffen. Und es wäre zu überlegen, wie wir diese Sachen gemeinsam entwickeln…

Das klingt etwas naiv.

Ist es aber nicht. Wir müssen unser Geschäftsmodell, das auf einem kolonialen Erbe basiert, komplett überdenken. Ich glaube, die Industrie hat das erkannt und ist bereit, diesen Wandel mitzugehen. Unsere Politiker müssen es allerdings noch erkennen.

Die EU-Kommission glaubt, mit einer nachhaltigen Wirtschaft ein Exportmodell geschaffen zu haben. Gleichzeitig gibt es Sorge wegen billiger, nachhaltiger E-Autos aus China…

Ich glaube ich nicht, dass wir einen Fehler gemacht haben, auf Nachhaltigkeit zu setzen. Die Weltbevölkerung wird 2050 rund 10 Milliarden Menschen betragen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, wie die Menschheit leben wird, wenn es im Schnitt zwei bis zweieinhalb Grad wärmer ist als in der vorindustriellen Zeit. Es braucht neues Wassermanagement, Gesundheitsmanagement, Energiemanagement, innovative Landwirtschaftsformen und neues Werkstoffmanagement, wie die Stahlproduktion mittels Wasserstoffreduktion. Europa steht in diesen Bereichen nicht schlecht da. Das Problem besteht nicht darin, dass die Politik auf Nachhaltigkeit setzt, sondern die Art und Weise, wie sie auf Nachhaltigkeit setzt.

Ich habe mit Clemens Fuest darüber gesprochen, und er meinte Schwellenländer und Exportmärkte Europas werden nachhaltige Lösungen nur kaufen, wenn sie Gewinn versprechen und nicht, weil sie nachhaltig sind.

Diese Lösungen versprechen Gewinne. Aber ich glaube, das hat die europäische Politik unzureichend verstanden. Wenn man die Investitionen in Klimaneutralität vergleicht, dann steht Europa in absoluten Zahlen sehr gut da, vor allem im Vergleich zu den USA. Das Problem ist, dass in Europa viel Geld in unproduktive Anlagen fließt, wie etwa die energetische Sanierung von Gebäuden. Das kostet ein Heidengeld, bringt wenig Produktivität, und nach 30-40 Jahren müssen diese Gebäude erneut generalsaniert werden. Im Gegensatz dazu investiert der amerikanische Kapitalmarkt stärker in produktive Anlagen, die tatsächlich klimaneutrale Produktion ermöglichen.

Sollte man jetzt also überlegen, wie man dieses Nachhaltigkeitsstreben mit unserer Rolle als Exportnation kombinieren kann?

Richtig, als Exportnation müssen wir strategisch vorgehen. Wenn China günstige E-Autos produziert, kann das ein Vorteil sein, aber wir müssen auch darüber verhandeln, wie wir eine ausgewogene Handelsbilanz erreichen. Ein wesentlicher Punkt ist, ob die EU sich dem amerikanischen Wirtschaftskrieg gegen China anschließen oder eine unabhängige Rolle spielen soll. Das ist die strategische Frage, die die Politik beantworten muss. Meiner Meinung nach sollten wir neue Handelsdeals eingehen und unabhängig bleiben. Das gilt auch für die Dateninfrastruktur, Datenzentren und das Internet, die überwiegend auf amerikanischen oder chinesischen Technologien fußen. Wo bleibt bei uns die De-Risking-Diskussion? Die EU braucht eine klare Wirtschafts- und Außenpolitik, die wirtschaftliche Interessen verteidigt, um Innovationen in Bereichen wie digitaler Infrastruktur und Klimatechnologien zu fördern.

Schauen wir auf die mittelosteuropäischen Länder der EU. Auch 20 Jahre nach ihrem EU-Beitritt ist man im „Westen“ oft schockiert über die politischen Entwicklungen in diesen Ländern. Brauchen wir also einen neuen gemeinsamen Nenner, damit alle EU-Mitglieder an einem Strang ziehen?

Die alte EU hatte eine verzerrte Sicht auf die neuen Mitgliedsstaaten, geprägt von den Denkmustern des Kalten Kriegs. Oft werden Länder wie Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn als potenzielle Autokratien oder auch Putins Handlanger dargestellt. Tatsächlich unterschätzen wir aber, wie lebendig die demokratische Kultur im Osten der EU ist. Deutschland selbst bekam nach dem Zweiten Weltkrieg die Freiheit von den Amerikanern geschenkt. Die Osteuropäer hingegen mussten Freiheiten erkämpfen – 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und Polen, 1968 in Prag, und von 1980 bis 1988 durchgehend Solidarność. 1989 war dann ganz Osteuropa im Aufruhr. Diese Menschen leben noch heute, diese freiheitlichen und demokratischen Erfahrungen sind noch lebendig.

Der europäische Binnenmarkt ist die größte wirtschaftspolitische Errungenschaft der EU. Wie können wir ihn weiterentwickeln, um ein neues zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell zu schaffen?

Eine europäische Kapitalmarktunion sowie eine gemeinsame Sozial- und Wirtschaftspolitik würden wirtschaftlich enorm helfen. Ein weiterer Gedanke: Wir haben viel über die globalen Technologien gesprochen, die für Klimamitigation benötigt werden. In Tschechien sitzen die möglicherweise besten Ingenieure Europas, und auch in Deutschland gibt es Spitzenkräfte. Wenn wir also über innovative industrielle Technologien sprechen, die in den Entwicklungsregionen der Welt zum Einsatz kommen, dann wird dieses Knowhow mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Tschechien kommen. Warum sollte also nicht z.B. ein deutsch-tschechisch-indisches Konsortium die Antworten auf die Wachstumsthemen der Welt finden und damit sowohl den Binnenmarkt als auch globale Märkte bedienen?

Rund 30 % des tschechischen Außenhandels gehen nach Deutschland, das wird oft als große Abhängigkeit Tschechiens vom deutschen Markt gesehen. Wie kann man also dieses intensive deutsch-tschechische Wirtschaftsmodell in einen regionalen Best-Practice-Hub für Innovation und höheren Mehrwert weiterentwickeln?

Deutschland muss die Arroganz ablegen, Tschechien als verlängerte Werkbank der deutschen Industrie zu betrachten. Dann sehe ich hier ein gigantisches Potenzial. Prag hat hervorragende Digital Hubs, die nicht nur auf KI-Modelle fokussiert sind, sondern tatsächlich digitale Innovationen für industrielle Prozesse liefern. Als global agierendes Industrieunternehmen hat man zwei Möglichkeiten zur Margenkontrolle: Entweder über einen hohen Grad an Flexibilisierung des Endprodukts, um Extrafeatures zu einer hohen Marge zu verkaufen – das hat die Automobilindustrie hervorragend hinbekommen – oder über Produktionseffizienz. Ich sehe das Know-how für solche Entwicklungen gerade in Deutschland, Tschechien oder auch Polen, da dort die Verbindung von Digitalwirtschaft und Industrie potenziell gegeben ist. Wir müssen es schaffen, die Welt der Bits und Atome zu verknüpfen. Das bedeutet, unsere Werkstoffe zu innovieren und neue Lösungen für Züge, Flugzeuge, Maschinen und die Landwirtschaft zu entwickeln. Europa ist hier hervorragend positioniert, da wir eine starke Engineering-Kultur und inzwischen auch das Digitalverständnis haben, das für solche Innovationen nötig ist.

Welche Rolle spielen in einer engeren Zusammenarbeit Bildung, Wissenschaft und Forschung?

Tschechien produziert in Brünn und Prag die besten Ingenieure. Brünn als angewandter Wissenschaftsstandort wird international komplett unterschätzt. Bis vor kurzem kamen Chinesen und auch Russen zum Studium eher nach Brünn als nach Aachen oder an die TU München. Das wird im Westen Europas nicht ausreichend gewürdigt. Wenn wir ein europäisches Pendant zum MIT in Boston brauchen, warum nicht ein solches Zentrum nach Brünn verlagern, wo bereits die besten Wissenschaftler arbeiten? Außenstellen könnten in Mailand, Barcelona oder auch in Wales entstehen. Wir sollten den Ausbau des erstklassigen Engineerings fördern, wo meiner Wahrnehmung nach Tschechien besser positioniert ist als Deutschland.

Jan Berger

Jan Berger ist Gründer und Geschäftsführer von Themis Foresight, einem Berliner Business Thinktank und Corporate Foresight-Unternehmen. Die beruflichen Stationen des Historikers und Slawisten führten ihn durch das Verlagswesen, die Finanzwirtschaft sowie die Immobilienbranche. Als Geschäftsführer leitete er sieben Jahre lang ein Zukunftsforschungsinstitut bevor er Themis Foresight gründete. Der Autor zahlreicher Studien und Bücher ist gefragter Sparringpartner von Executives, Keynote Speaker und Panelist.

Interview: Christian Rühmkorf
Foto: Archiv Jan Berger, Themis Foresight

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