Rückgrat des böhmischen Wirtschaftswunders

„Small is beautiful“ – der berühmte Buchtitel des Ökonomen Ernst Friedrich Schumacher könnte auch gut auf Tschechien passen. Ähnlich wie Deutschland ist es ein klassisches Mittelstandsland; 99,8 Prozent aller Unternehmen fallen unter die EU-Definition für kleine und mittelständische Betriebe (KMU). Für 2016 ermittelte Eurostat eine Millionen KMU, die große Mehrheit davon waren Ich-AGs und Kleinstbetriebe mit maximal neun Mitarbeitern. Bei wichtigen Indikatoren wie dem Anteil an der Gesamtwertschöpfung (55 Prozent) und an der Gesamtbeschäftigung (67 Prozent) erzielen Tschechiens KMU ähnliche Werte wie der Durchschnitt der 28 EU-Länder.

Dennoch haben die vielen kleinen Unternehmen gegenüber Großbetrieben in manchen Punkten das Nachsehen. Ihr Anteil an Tschechiens Gesamtexporten zum Beispiel erreicht kaum ein Drittel. Bei der Wertschöpfung fallen sie ebenfalls zurück. Nach Analysen der EU-Kommission kamen KMU hier zwischen 2012 und 2016 auf einen Zuwachs von knapp zehn Prozent. Großunternehmen mit 250 und mehr Beschäftigten steigerten ihre Wertschöpfung im gleichen Zeitraum um 16 Prozent. Auch bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze geben Großbetriebe den Takt vor, während die KMU ihre Mitarbeiterzahl in den letzten Jahren lediglich stabil hielten. Eine ähnliche Stagnation gab es bei den Investitionen.

Die schwache Performance bei diesen Kennziffern liegt daran, dass besonders die Boombranche Automobilindustrie von großen Unternehmen dominiert wird. Hier haben selbst die Zulieferer oft über 250 Beschäftigte oder erreichen Umsätze von mehr als 50 Millionen Euro und gelten damit nicht mehr als Mittelständler. Der steile Anstieg der Wertschöpfung und der Beschäftigung in diesem Wirtschaftszweig taucht damit in der KMU-Statistik nicht auf.

Viel Wachstum im IT- und Transportsektor

Zu den Wachstumsbranchen für kleinere und mittlere Unternehmen in Tschechien gehören stattdessen der IT- und der Logistiksektor. Böhmens und Mährens Softwarehersteller profitieren von der globalen Nachfrage nach Programmierdiensten. Spediteure und Lagerverwalter wiederum sind gefragt, weil die Transportströme dank des Wirtschaftsaufschwungs steigen.

Die Zahl neuer Firmenanmeldungen in Tschechien ist 2016 zum fünften Mal in Folge gestiegen; laut Wirtschaftsauskunftei Bisnode wurden fast 29.000 neue Gesellschaften registriert. Das Procedere für eine Geschäftsgründung gilt als relativ einfach und ist innerhalb von zwei Monaten erledigt. Als Stammkapital für eine GmbH reicht eine Krone. Gründer finden also ein gutes Umfeld vor, weshalb auch die EU-Kommission viel Anerkennung für Tschechiens Mittelstand hat. Nach Einschätzung der Brüsseler Beamten liegt das Land bei der staatlichen Unterstützung für die kleinen und mittelgroßen Betriebe, beim Zugang zu Finanzmitteln sowie beim Ausbildungsniveau und der Innovationskraft über dem europäischen Durchschnitt.

Theoretisch können KMU in Tschechien dank der prall gefüllten EU-Fonds aus dem Vollen schöpfen – wenn sie den bürokratischen Aufwand der Antragstellung und die Nachweispflichten zur Mittelverwendung nicht scheuen. Wichtigste Finanzquelle ist das Operationelle Programm „Unternehmen und Innovation für Konkurrenzfähigkeit“ (OPPIK). Darin ist die Achse 2 für die Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen vorgesehen. Im aktuellen Programmzeitraum 2014 bis 2020 stehen fast 900 Millionen Euro aus Brüssel zur Verfügung.

Aus dem Programm OPPIK wird demnächst auch der Nationale Innovationsfonds NIF gespeist, der sich an technologische Start-ups in der Frühphase ihrer Entwicklung richtet. Der Fonds soll im 2. Quartal 2018 seine Arbeit aufnehmen, den jungen Firmen Seed-Kapital bereitstellen und ihnen unter dem Dach von Inkubatoren Starthilfe geben.

Zu wenig gesellschaftliche Anerkennung für Gründer

Nachholbedarf für die Mittelstandsszene in Tschechien sieht die EU-Kommission beim Unternehmergeist und der öffentlichen Wertschätzung für unternehmerische Initiative. Gründer fänden noch zu wenig gesellschaftliche Anerkennung. Ebenso seien die administrativen Hürden im Geschäftsalltag hoch, die Umsetzung von E-Government komme nur schleppend voran und sogenannte One-Stop-Shops, bei denen mehrere Verwaltungsvorgänge unter einem Dach erledigt werden können, seien immer noch rar. Viel Potenzial für eine bessere Entwicklung des tschechischen Mittelstandes sieht die EU-Kommission außerdem in der Förderung von Auslandsaktivitäten. Die KMU sollten sich mehr als bislang um Exportaufträge bemühen.

Dafür baut das Wirtschaftsministerium unter anderem das Auslandsnetz von CzechTrade aus. Die staatliche Gesellschaft ist bereits an über 50 Standorten auf allen fünf Kontinenten vertreten. Besonders Deutschland ist dabei als Absatzregion interessant, bestätigt Adam Jareš, der das Büro von CzechTrade in Düsseldorf leitet – der erfolgreichsten Außenstelle der Agentur. Jareš‘ Team hilft tschechischen Firmen bei der Erschließung des deutschen Marktes, vermittelt Geschäftskontakte, informiert über die Rahmenbedingungen, sucht Lieferanten und Abnehmer. „Wir haben allein 2017 rund 300 Unternehmen betreut, so viele wie nie zuvor“, berichtet Jareš. „Drei Viertel davon waren KMU.“

Die Firmen kommen häufig aus den Branchen Maschinenbau, Elektronik und Kunststoffverarbeitung und suchen Handelsvertreter für ihre Produkte in Deutschland. „Beim Erstkontakt ist die Sprachbarriere ein großes Problem für die kleinen Unternehmen“, erzählt der Büroleiter. Die wenigsten Firmengründer können Deutsch, und Englisch wollen die deutschen Geschäftspartner meist nicht sprechen. CzechTrade hilft in der Anfangsphase, die Barriere zu überwinden.

Deutschland ist für tschechische KMU auch deshalb interessant, „weil dort zahlreiche internationale Leitmessen stattfinden, bei denen die Unternehmen Kunden aus aller Welt treffen können“, sagt Berater Jareš. CzechTrade und das Prager Wirtschaftsministerium haben tschechische Unternehmen deshalb 2017 bei der Teilnahme an 27 Messen in Deutschland unterstützt. Weltweit wurden 146 Messen gefördert, um mittelständischen Firmen beim Sprung auf die Auslandsmärkte zu helfen.

Deutschland beliebtestes Auslandsziel der KMU

„Deutschland ist aber klar das beliebteste Exportland für unsere kleinen und mittelständischen Betriebe“, sagt der Düsseldorfer CzechTrade-Direktor Jareš. „Der Markt ist in der Nähe, die kulturellen Gemeinsamkeiten groß und die Kaufkraft sehr stark.“

Natürlich ist es für die tschechischen Firmen nicht immer einfach, sich auf dem sehr wettbewerbsstarken deutschen Markt zu behaupten. Sie treffen dort auf erfahrene Konkurrenz, die sie so massiv aus der Heimat nicht kennen. Während besonders im Westen der Bundesrepublik die mittelständischen Unternehmen häufig auf eine lange Familientradition zurückblicken können, begann die Historie der KMU in Tschechien erst in den 1990er Jahren. Vorher war privates Engagement in der Wirtschaft vier Jahrzehnte lang unerwünscht.

Klassische Familienunternehmen, deren Historie mehrere Generationen zurückreicht, sind also rar zwischen Liberec und Brno. Deshalb versucht Tschechiens Mittelstandsvereinigung AMSP, die Familienbetriebe 2018 mit einer Sonderkampagne ins Rampenlicht zu rücken. Denn laut Verbandsvorsitzenden Karel Havlíček sind sie „widerstandsfähiger in Krisenzeiten, sorgen für Beschäftigung im ländlichen Raum und zeigen viel soziale Verantwortung an ihren Produktionsstandorten“. Ein Ziel des Verbandes ist es, den Terminus „Familienunternehmen“ gesetzlich zu verankern.

In Tschechien sind laut Wirtschaftszeitung Hospodářské noviny 87 Prozent aller Unternehmen familiengeführt. Sie tragen ein Viertel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Prager Equa Bank organisiert regelmäßig den Wettbewerb „Familienfirma des Jahres“, der einen guten Überblick zur Vielfalt der Unternehmenslandschaft bietet. Preisträger 2017 war der Prager Müslihersteller Emco. Firmengründer Zdeněk Jahoda hatte 1990 mit dem Handel von Textilmaschinen gestartet. Später importierte er Zerealien, bevor mit einem einfachen Küchenbackofen die Eigenproduktion von Getreideprodukten begann. Heute beschäftigt Emco über 200 Mitarbeiter und liefert Müslis, Breie, Riegel oder Haferflocken in 45 Länder. Auch Jahodas Frau und seine Kinder engagieren sich in dem Familienunternehmen.

Tomáš Baťa als Vorbild für Familienunternehmen

Ein Zitat des Urvaters aller tschechischen Familienunternehmen, Tomáš Baťa, hat sich Miroslav Krištof auf die Fahnen geschrieben: „Bei einem guten Geschäft sind alle Teilnehmer zufrieden“, steht auf der Webseite seines Unternehmens Lorika. Der Handelsbetrieb aus Olomouc ist spezialisiert auf Hygieneartikel für Restaurants oder Hotels. Sechs von 30 Beschäftigten gehören zu Krištofs Familie. Beim Wettbewerb der Equa Bank landete Lorika 2017 auf Platz Eins der Kategorie „Kleine Unternehmen“.

Solche Familienbetriebe sind das „Rückgrat jeder stabilen Ökonomie“, unterstreicht Mittelstandslobbyist Havlíček. Zum Start des diesjährigen AMSP-Schwerpunktthemas sagte der Verbandsvorsitzende: „Familienunternehmen tragen eine große Verantwortung für ihr Umfeld, sie respektieren Traditionen und unsere ursprünglichen Produkte und knüpfen daran an, was unsere Vorfahren geschaffen haben.“ Die Unterstützung solcher Unternehmen zahle sich aus, da die Investitionen in den Regionen verbleiben und dort Wirkung entfalteten.

Die AMSP will Verbraucher und Großkunden aus der Industrie überzeugen, dass Kleinbetriebe in Familienhand zuverlässige und stabile Lieferanten sind. Einen solchen Familienbetrieb leitet auch Udo Tarnawski, der sich 2011 im Örtchen Jeneč westlich von Prag selbstständig gemacht hat. Zusammen mit seiner Ehefrau führt er das Logistikunternehmen Tarn Log, vermittelt Lkw-Ladungen und Transporte von und nach Tschechien.

Das Geschäftsumfeld im Land sieht Tarnawski positiv: „Die Gründung der Firma war einfach und schnell erledigt, die Kosten sind überschaubar und die Bürokratie für kleine Unternehmen hält sich in Grenzen.“ Der 47-Jährige Bochumer hat seine Büroräume im eigenen Haus untergebracht und die Buchhaltung ausgelagert. Mit dieser schlanken Struktur kann Tarn Log auch als Kleinstunternehmen gegen die großen Logistikdienstleister in Tschechien bestehen. Problem seien allerdings die langen Zahlungsfristen der Kunden und der schwierige Zugang zu Finanzierungen für kleine Unternehmen, erklärt Firmengründer Tarnawski.

Mangelnde Innovationskraft bereitet Sorgen

Dem Lobbyverband AMSP bereitet noch ein anderes Problem des Mittelstands Sorgen: die mangelnde Innovationskraft. Tschechien gehört mit Forschungsausgaben von rund zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zwar zu den Vorreitern in Mittelosteuropa. Problem sei aber, dass es dabei von EU-Fonds abhängig sei, sagte AMSP-Vorsitzender Havlíček in einem Beitrag für die Tageszeitung Deník. Schon jetzt zeichne sich ab, dass die Mittel in einigen Jahren nicht mehr zur Verfügung stehen. Havlíček plädiert für neue Förderansätze wie bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Forschungsausgaben oder die Vergabe günstiger Kredite. Aktuell seien die steuerlichen Regeln so unklar, sodass viele Firmen diese gar nicht nutzten.

Auch bei wichtigen Zukunftsfragen wie Digitalisierung und Vernetzung der Produktionswelten haben KMU in Tschechien noch Nachholbedarf. Im Bericht zur Lage des Mittelstands konstatierte das Wirtschaftsministerium 2017, dass sie dem Trend Industrie 4.0 noch mit viel Misstrauen begegnen. Sie nutzten bislang kaum externe Beratung und Consultingdienste bei diesem wichtigen Zukunftsthema. Hier müsse noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, um Stereotypen zu überwinden, schreiben die Autoren der Analyse. Das gilt auch für eine Digitalisierungsstrategie, über die sich die Mehrheit der kleinen und mittelständischen Unternehmen noch keine Gedanken macht.

Umfragen unter den Geschäftsführungen der Betriebe zeigen, dass für die Umsetzung einer Industrie-4.0-Strategie vor allem qualifiziertes Personal und Finanzressourcen fehlen. Dadurch könnte sich der technologische Rückstand zu großen internationalen Konzernen vergrößern.

Im Vorteil sind KMU, hinter denen finanzstarke Investoren und Mutterhäuser aus Westeuropa stehen, die ohnehin das Internet der Dinge und die Vernetzung der Produktionsprozesse auf dem Schirm haben.

Deutsche Mittelständler nutzen Standortvorteile

Die Wachstumschancen in Tschechien haben auch viele deutsche Mittelständler in das östliche Nachbarland gelockt. Dazu gehört die Deutsche Holzveredelung Schmeing aus Kirchhundem im Sauerland, die den Konstruktions- und Isolierwerkstoff Dehonit produziert. Das inhabergeführte Familienunternehmen wurde 1934 im Sauerland gegründet und wird heute in der dritten Generation von den Brüdern Marc und Christian Schmeing geleitet.

Vor über 20 Jahren ist das Unternehmen nach Westböhmen gegangen und hat in Sokolov einen Produktionsbetrieb für Vorprodukte und Halbfabrikate gegründet. „Der Grund waren die günstigen Lohnkosten und die kurzen Wege zur Beschaffung von Rohstoffen“, erzählt Marc Schmeing, der heute Geschäftsführer bei der tschechischen Tochterfirma Dehonit-Falke ist.

Die Rahmenbedingungen im Land schätzt Schmeing grundsätzlich positiv ein. „Die Infrastruktur hat sich gut entwickelt, Steuern und Arbeitsrecht sind auf europäischem Niveau, die Internetanbindung ist in Ordnung.“ Auch bei der Finanzierung gebe es heute – anders als vor 15 Jahren – keine Probleme mehr: „Die Banken arbeiten sehr schnell und professionell.“

Trotzdem ist es für ein mittelständisches Unternehmen nach Schmeings Erfahrungen in Tschechien nicht immer leicht, Geschäfte zu machen. Die KMU im Land würden kaum wahrgenommen und unterstützt. Zudem halte sich die Bürokratie sehr formell an Regularien und arbeite wenig ergebnisorientiert, so Schmeing. „Da sind deutsche Behörden teilweise erheblich souveräner.“

Schwierige Suche nach Fachkräften

Auch die Beschaffung technischer Ersatzteile, die Gewinnung von Fachkräften oder von guten Handwerkern kann in der Praxis Probleme bereiten, sagt der Geschäftsführer. „Das können wir dann häufig nur aus Deutschland sicherstellen.“

Die Personalgewinnung erweist sich für Dehonit-Falke als größte Herausforderung in Tschechien. „Qualifizierte und engagierte Mitarbeiter zu finden und zu halten, wird immer schwerer“, sagt Schmeing. „Bis vor zwei Jahren hatten wir in unserem Unternehmen fast keine Personalfluktuation. Das hat sich stark geändert, insbesondere bedingt durch unsere grenznahe Lage zu Deutschland.“ Zudem habe sich die Qualität der Ausbildung, die handwerklichen und sprachlichen Kenntnisse in den letzten 15 Jahren kaum verbessert. „Hoffentlich rächt sich das nicht in einigen Jahren.“

Das Sauerländer Unternehmen hat in Tschechien trotz der zuweilen schwierigen Marktbedingungen große Zukunftspläne. Erst vor zwei Jahren wurde eine 6.000 Quadratmeter große Halle erworben, um die Produktion auszuweiten. Doch eine finale Entscheidung darüber ist noch nicht gefallen. „Zunächst müssen wir uns qualitativ weiterentwickeln“, schränkt Geschäftsführer Schmeing ein. „In den letzten zwei, drei Jahren sind unsere Kosten schneller als die Produktivität gewachsen. Das ist nicht gut.“

Gerit Schulze
Germany Trade & Invest

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