Tschechiens Ernährungswirtschaft wird zum Politikum
Die Coronavirus-Krise und der zwei Monate währende Notstand haben die Lebensmittelmärkte in Tschechien sehr unterschiedlich beeinflusst. Als Grundbedarfsanbieter profitierte der Lebensmitteleinzelhandel, da er von den acht- bis zehnwöchigen Geschäftsschließungen, denen andere Einzelhändler oder Dienstleistungsanbieter unterlagen, nicht betroffen war. Während die Zulieferer der Supermärkte zulegen konnten und zum Teil Personal einstellten, standen die der Gastronomie, darunter der Großhandel und die Bierbrauer, vor verschlossenen Türen.
Die Statistik zeigte die Unterschiede im März klar auf. Dieser Monat war bereits geprägt durch massive Vorratskäufe verunsicherter Verbraucher. Die Lebensmittelindustrie erlöste im Vorjahresvergleich über 14 % (laufende Preise) mehr. Die Umsätze der Getränkehersteller gingen in fast demselben Maße zurück. Der Einzelhandel mit Lebensmitteln setzte um 10 % mehr um (preisbereinigt 4 %), was aber vor allem Super- und Hypermärkte registrierten. Der Fachhandel mit Lebensmitteln hatte nichts zu lachen bei einem Rückgang um 12 %. In der Gastronomie brachen die Umsätze um 42 % ein. Restaurants, Cafés und Kneipen konnten am 11. Mai ihre Gäste erstmals wieder direkt bedienen, wenn auch nur draußen. Seit dem 25. Mai ist auch der Innenbereich wieder zugelassen. Solange es aber kaum ausländische Touristen gibt, Abstandsregelungen und frühere Schließungszeiten zu beachten sind, können die Lokale nicht an das Vorkrisenhoch anschließen. Der Verband der Brauereien rechnet nach dem Spitzenjahr 2019 und einer Produktion von 21,6 Millionen Hektolitern Bier mit einem erheblichen Rückgang und fürchtet vor allem um die Existenz der Minibrauereien.
Solidarität in Corona-Zeiten
Schwer hatten es durch das mehrwöchige Verbot der Bauernmärkte auch die Landwirte, die ihre Produkte direkt auf diesen Märkten verkaufen – regional fokussiert und ohne Zwischenhändler. Ihnen sprang das Internet zur Seite, etwa in Gestalt des online-Supermarkts Košík.cz, der auf seiner Website einen Bauernmarkt aufmachte. Demonstrativ warb Penny Market für den Konsum nationaler Produkte unter dem Motto „Lasst es Euch in Tschechien gut gehen.“ Damit stand die Supermarktkette nicht allein. Gerade bei frischen Waren wie Brot, Fleisch und Wurstwaren, Milch und Molkereiprodukten ziehen tschechische Käufer Umfragen zufolge heimische Anbieter vor. Orientierung liefern nationale Gütesiegel für hochwertige tschechische Lebensmittel wie KLASA oder Regionální potravina.
Online-Absatz gewinnt an Fahrt
Der tschechische Lebensmitteleinzelhandel wird von ausländischen Ketten bestimmt. Unter den Top 10 befinden sich sechs deutsche Namen mit Lidl und Kaufland an der Spitze vor Albert, Tesco und Penny Market. Von Bedeutung sind auch die tschechischen Supermärkte Hruška und die Genossenschaften Coop und CBA.
Durch Corona hat der elektronische Handel als Absatzkanal im Segment Food nochmal einen Sprung gemacht. Marktführer sind die Anbieter Rohlik.cz, Košík.cz und Tesco. Sie wussten schon vorher, ihre Klientel durch Extras wie Lebensmittelampeln, Plastikreduzierungskampagnen oder die Zusammenarbeit mit regionalen Erzeugern zu halten. Unter dem Einfluss von Covid-19 konnten sie sich vor Nachfrage kaum retten, da die Menschen plötzlich im Internet Großeinkäufe machten. Die elektronischen Supermärkte erweitern daher ihr Angebot, automatisieren ihre Lager, bauen neue und expandieren in die Regionen.
Steigende Lebensmittelausgaben
Mit rund 16 % ihrer Haushaltsausgaben müssen die Tschechen einen deutlich größeren Anteil für Lebensmittel und nichtalkoholische Getränke aufwenden, als die Bürger im Durchschnitt der EU (12 %). Geht es nach den Zahlen von Eurostat, betrugen diese Konsumausgaben 2018 rund 16 Milliarden Euro. Hinzu kamen 3,3 Milliarden Euro für alkoholische Getränke und 6,6 Milliarden Euro für die Verpflegung außer Haus. Seit Jahren nehmen diese Ausgaben zu.
Angesichts eines durchschnittlichen Bruttomonatslohns von 34.077 Kč im 1. Quartal 2020 (rund 1.330 Euro) ist der Preis entscheidend für den Großteil der Nachfrage. Angebotsaktionen bleiben beliebt und werden in der durch die Pandemie ausgelösten Rezession noch einmal an Aufmerksamkeit gewinnen. Auch die Hausmarken der Handelsketten sind gefragt. Ihr Sortiment wächst. Kaufland vermarktet verstärkt seine vegane Eigenmarke. Globus stellt Hausmarken zum Teil im Supermarkt selbst her.
Die steigenden Löhne und Einkommen der vergangenen Jahre erlauben es den Bürgern zunehmend Markenartikel und hochwertige regionale Produkte nachzufragen. Aspekte wie Nachhaltigkeit, Umwelt und Tierwohl beginnen eine Rolle zu spielen. Dass es möglich ist, Rinder rund ums Jahr auf der Weide zu halten und für Fleisch zu sorgen, das von der Farm direkt zum Verbraucher kommt, beweist die Farm Kukburg unfern von Prag, die ihre Produkte auch in der angeschlossenen Gastronomie anbietet. Der Hof Louchovský dvůr im Kreis Chomutov arbeitet mit aus Frankreich stammenden Salers-Rindern und liefert das Fleisch direkt aus.
Die Verpackungen selbst beginnen von diesen Themen zu erzählen. Kleine Geschichten zu Nachhaltigkeit und Produktionsweg finden sich zum Beispiel auf den Schachteln von Tomaten und Früchten der Vertriebsgenossenschaft cerstveutrzeno.cz, die verschiedene mährische Obstfarmen vereint. Wer Verpackungen ohne Plastik sucht oder gar Zero Waste anstrebt, findet in Prag Alternativen bei ersten Unverpackt-Anbietern wie der Initiative Bezobalu oder dem Geschäft Neobaleno. Einige Supermärkten bieten bereits Abfüllungsvorrichtungen für den Verbraucher an.
Es sind in der Masse nach wie vor die Ausnahmen. Zu den Trends, die oft in Nischen beginnen, aber sich beharrlich ausprägen können, gehört die Nachfrage nach Biolebensmitteln, Allergiker-Produkten, Sportlernahrung, vegetarischen und veganen Alternativen. Noch sind in den Regalen viele dieser Produkte importierter Herkunft.
Wachsende ökologische Landwirtschaft
Von der dynamischen Nachfrage nach Biolebensmitteln will sich Tschechiens wachsende ökologische Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion einen Teil abschneiden. Ihr Anteil an der Agrarproduktion erreichte 2018 rund 5 %. Gut 13 % der Äcker werden nach Angaben des Landwirtschaftsministeriums von über 4.600 Farmen bereits ökologisch bewirtschaftet. In der Verarbeitung sind es 750 Firmen und im Handel 950. Fördergelder unterstützen diesen Trend seit Jahren.
Bestätigung kommt durch die Strategie für ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem, das die EU unter dem Motto „Farm to Fork“ (vom Hof auf den Tisch) am 20. Mai 2020 vorstellte. Es baut darauf, dass sich die Menschen trotz der wachenden Urbanisierung einen engeren Bezug zu ihren Lebensmitteln wünschen, die frisch, weniger stark verarbeitet und nachhaltig erzeugt sein sollen.
Lebensmittelgesetz in der Überarbeitung
Das trifft auch auf tschechische Verbraucher zu. Zusätzlich hat die Diskussion über zweierlei Qualität dazu geführt, dass viele genauer hinschauen, wo ein Produkt herkommt und was es genau enthält. In einer Studie, die 1.400 Lebensmittel aus 19 Ländern verglich, hat die EU-Kommission zwar keinen Ost-West-Unterschied bei der Zusammensetzung von Markenlebensmitteln festgestellt. Doch beobachtete sie, dass ein Drittel der getesteten Produkte, die als identisch oder ähnlich vermarktet wurden, eine unterschiedliche Zusammensetzung aufwies. Zum Schutz des Verbrauchers ist das nicht mehr zulässig. Tschechien novelliert aktuell vor diesem Hintergrund sein Lebensmittelgesetz.
Höherer Selbstversorgungsgrad angestrebt
Mehrere Abgeordnete nutzten diesen gesetzgeberischen Prozess, um weitere Abänderungsentwürfe einzubringen. Ihr Ziel: Eine Quote für tschechische Lebensmittel in den Einzelhandelsregalen einzuführen. Die Coronavirus-Krise hat die Rufe nach mehr Autarkie in der Lebensmittelversorgung geschürt. Auf diese Weise würden nationale Produzenten auf dem heimischen Markt gestärkt. Tschechien importiert von Jahr zu Jahr mehr Lebensmittel und verzeichnet ein hohes Handelsdefizit. Der Selbstversorgungsgrad bei verschiedenen Produkten ist zurückgegangen. Hoch ist er Pressemeldungen zufolge bei Senf, Mohn, Rindfleisch, Milch, Getreide oder Raps. Unter 100 % liegt er bei Soja, Kartoffeln, Geflügel, Obst. Besonders niedrig ist er bei Schweinefleisch (51 %), Wein (39 %), frischem Gemüse (32 %). Das ist vielen Politikern ein Dorn im Auge. Fördermittel, die die Investitionen in Agrar- und Lebensmittelbetrieben besonders im Hinblick auf die Selbstversorgung in sensitiven Bereichen unterstützen sollen, scheinen nicht genug.
So schlugen Abgeordnete von der rechtsnationalen Partei für Freiheit und direkte Demokratie SPD und von der regierenden Bewegung ANO vor, 2021 eine Quote von 55 % für tschechische Lebensmittel im Einzelhandel einzuführen. Diese sollte bis 2027 jedes Jahr um weitere 5 Prozentpunkte steigen auf 85 %.
Nationales Politikum
Ein umstrittener Vorstoß. Institutionen wie der Verband für Handel und Tourismus oder der Verband der privaten Landwirtschaft kritisierten, dass die 85-Prozent-Quote große Agrar- und Lebensmittelkonzerne begünstige und dem Verbraucher schade. Dessen Wahlmöglichkeit würde reduziert. Preissteigerungen und geringere Qualität könnten die Folge sein. Das Gesetz verstoße darüber hinaus gegen das europäische Recht. Vom Sender CNN Prima News auf den Vorschlag angesprochen, äußerte sich auch Ministerpräsident Andrej Babiš ablehnend. Er ist Gründer der Partei ANO und des Konzerns Agrofert, einer der umsatzstärksten des Landes, der in Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion, Agrarchemie und der Medienbranche tätig ist. Seine Anteile hat Babiš 2017 in einen treuhänderischen Fonds eingebracht.
Anfang Juni ging der Entwurf der Novelle zur Überarbeitung in die 2. Lesung und den Landwirtschaftsausschuss zurück. Damit dürfte die Sache aber noch nicht erledigt sein. Welche politische Brisanz mit diesem Thema verbunden ist, zeigt ein neues Plakat der rechtsnationalen Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ (SPD): „Tschechische Lebensmittel – nicht den teuren Abfall aus der EU!“
Deutschland wichtigstes Lieferland
Die Importe von Agrarerzeugnissen und Nahrungsmitteln (ohne lebende Tiere und Tierfutter) sind nach Angaben des Tschechischen Statistikamts zwischen 2009 und 2019 um 3,2 Milliarden Euro auf 6,7 Milliarden Euro angestiegen. Gegenüber 2018 war es ein nominaler Zuwachs um 7,3 %. Bedeutendste Einfuhrpositionen sind Gemüse und Früchte, gefolgt von Fleisch und Wurstwaren. In beiden Bereichen ist das Handelsdefizit besonders ausgeprägt. Positiv schließt der Außenhandel mit Getreide- und Getreideerzeugnissen, Milch und Milcherzeugnissen sowie Zucker, Zuckerwaren und Honig. Insgesamt betrug das Defizit 2,2 Milliarden Euro. Bei den Getränken machte es 44 Millionen Euro aus. Tschechiens Exporte von Nahrungsmitteln und Getränken haben 2019 gegenüber dem Vorjahr um 4,1 % auf 5,1 Milliarden Euro zugenommen.
Wichtigstes Lieferland ist seit vielen Jahren Deutschland, das 2019 mit Lebensmittel- und Getränkelieferungen (ohne lebende Tiere und Futtermittel) im Wert von 1,65 Milliarden Euro 22,4 % der tschechischen Importe in diesem Segment stellte. Es folgen Polen, Spanien, die Slowakei und die Niederlande. Nach Deutschland exportierte Tschechien 2019 Lebensmittel und Getränke im Wert von 1,0 Milliarden Euro.
Text: Miriam Neubert, Germany Trade & Invest
Titelfoto: pixabay/ElasticComputeFarm