Die kleine Schwester wird erwachsen

Vom grauen Industriestandort zu Tschechiens Silicon Valley: Brünn (tschechisch: Brno) macht der Hauptstadt Prag zunehmend Konkurrenz. Namhafte internationale IT-Konzerne haben sich in Mährens Metropole angesiedelt, die Startup-Szene ist lebendig, die Lebensqualität hoch.

Nur ein Drittel so groß wie Prag, der Name mit drei Konsonanten in Folge ein Zungenbrecher für Westeuropäer und dominierende Industrieprodukte, die beim Start in die Marktwirtschaft nicht gerade zukunftsweisend schienen: Traktoren (Zetor), Dampfkessel (Královopolská) und Kanonen (Zbrojovka). Konnte Brünn bei dieser Ausgangslage der Hauptstadt jemals Konkurrenz machen?

Es konnte. Heute wird Tschechiens zweitgrößte Stadt vor allem mit Innovationen verbunden. Internationale Medien nennen Südmähren gern das Silicon Valley Mitteleuropas. Mit fast 70.000 Studierenden hat Brünn die größte Dichte an angehenden Akademikern in Tschechien. Die örtliche Masaryk-Universität gilt als Vorreiterin bei Kooperationen mit der Wirtschaft, agiert dabei offener und unkomplizierter als die altehrwürdige Karls-Universität in Prag.

Fast vier Prozent der Wirtschaftsleistung Südmährens fließen in Forschung und Entwicklung, doppelt so viel wie im Landesdurchschnitt. Von 50 Forschungszentren, die mit EU-Geldern in Tschechien errichtet wurden, stehen allein 14 in Brünn, schreibt das Wirtschaftsmagazin Ekonom.

Inkubator für Neugründungen junger Firmen

Dank der vielen Studierenden ist Brünn heute Sitz spannender Firmengründungen. Hier residiert das Unternehmen Student Agency, das den Transportsektor im Land revolutionierte: mit hochmodernen Fernbussen und bisher ungekanntem Service auf der Schiene.

Brünn ist Heimat von Kiwi.com, dem am schnellsten wachsenden Startup des Landes. 2012 als „Skypicker“ gegründet, verkaufte das Unternehmen 2016 bereits Flugtickets für 300 Mio. Euro. Experten sehen Kiwi.com schon als nächstes Unicorn (Marktwert von mehr als einer Milliarde US-Dollar).

Diese magische Größe hat ein anderes Brünner Unternehmen, der Anti-Viren-Spezialist AVG, längst überschritten. Die Aktiengesellschaft wurde 2016 vom Prager Konkurrenten Avast für 1,3 Mrd. US-Dollar übernommen, wegen ihrer starken Marktposition beim Virenschutz von Smartphones. Die Entwicklungsabteilung von AVG bleibt in Mähren.

„Prag ist wunderschön, aber wenn Sie echte tschechische Gastfreundschaft gepaart mit hoher Lebensqualität erleben wollen, dann ist Brünn aus meiner Sicht die bessere Wahl“, schwärmt Lucie Mezníková. Als Spezialistin für die Kooperation mit Privatunternehmen beim Magistrat darf sie naturgemäß kaum Zweifel an den Vorzügen ihrer Heimatstadt lassen.

Doch auch unabhängige Studien kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Im internationalen Quality of Life Index 2017 der Datenbank Numbeo liegt Brünn im europäischen Vergleich auf Rang 24 und damit vier Plätze vor dem Kontrahenten an der Moldau. Das beschauliche Städtchen lässt sogar Stockholm, Barcelona und Budapest hinter sich – dank günstiger Kostenstruktur, niedriger Kriminalitätsrate und angenehmer Witterung.

Hohe Lebensqualität überzeugt Investoren

„Brünn hat genau die richtige Größe, nicht zu riesig und trotzdem lebendig“, meint Standortwerberin Mezníková. Für Unternehmen sei es heute wichtiger denn je, dass eine Stadt ein attraktives Umfeld für die Beschäftigten biete. „Deshalb geben wir zum Beispiel zehn Prozent unseres kommunalen Haushalts für Kultur aus“, erklärt die Investorenberaterin.

Große internationale Konzerne sind davon offenbar beeindruckt. Der US-Softwarehersteller Red Hat hat sein Forschungszentrum für Mitteleuropa in Brünn angesiedelt, ebenso der Spezialist für Luftfahrt und Automatisierungstechnik Honeywell. IBM betreibt dort ein Client Innovation Centre. Und mit Tescan Orsay kommt sogar ein Hightech-Weltmarktführer aus Brünn: Das Unternehmen liefert Elektronenmikroskope in 80 Länder.

Spitzenreiter ist Brünn auch als Messestandort. Das Ausstellungsgelände im Stadtteil Pisárky gehört zu den wichtigsten in Mittelosteuropa. Die Maschinenbaumesse MSV ist jedes Jahr im Herbst ein Pflichttermin für die großen Ausrüstungshersteller der Welt.

Nach schwierigen Jahren in Folge der Wirtschaftskrise von 2009 steigen die Aussteller- und Besucherzahlen wieder. „Jährlich kommen rund 800.000 Besucher zu unseren Veranstaltungen. Das hilft Restaurants, Hotels und Dienstleistern in der Region“, sagt Radoslav Klepáč, Direktor für Außenbeziehungen bei der Messegesellschaft Veletrhy Brno (BVV). Nach seinen Berechnungen spült jede Krone Umsatz der Messegesellschaft vier bis fünf Kronen Umsatz in die lokale Wirtschaft. Das wären jährlich über 100 Mio. Euro.

Die Messe in Brünn. Bildquelle: Veletrhy Brno
Messegelände soll lebendiger werden

Seit Ende 2016 ist Brünn alleiniger Eigentümer der Messe, nachdem sich die Messe Düsseldorf zurückgezogen hatte. Die Stadt will das 63 Hektar große Areal auch zu einem Ort des städtischen Kulturlebens entwickeln. In den Wochen ohne Ausstellungen sollen Freizeitaktivitäten für eine breitere Öffentlichkeit mehr Leben auf das Gelände bringen. Angedacht sind Open-Air-Konzerte, Stadtlauf, Freilichtbühne oder Attraktionen à la Wiener Prater. BVV-Manager Klepáč glaubt jedoch an das traditionelle Geschäft, bei einer noch stärkeren Spezialisierung auf Fachbesucher. „Messen haben auch im Internetzeitalter einen hohen Wert, wenn sie Geschäftskontakte vermitteln, Innovationen und Trends zeigen.“

Das Gegenstück zum 90 Jahre alten Messegelände residiert am anderen Ende der Stadt: der Technologiepark mit dem Südmährischen Innovationszentrum JIC. Zwischen Wiesen und Plattenbauten gelegen, wirkt der Gebäudekomplex wie ein Vorbote der Zukunft. Zwar tragen die Konferenzräume im JIC altertümlich klingende Namen wie Pavel Hynek Morgenthaler oder Friedrich Wannick – Unternehmer aus vergangenen Jahrhunderten, die Brünn zu einer führenden Industriestadt im Habsburgerreich gemacht hatten. Doch hinter den Türen sorgen Notebooks, schrille Wandfarben, Matratzen und Kuschelkissen für hippe Atmosphäre. Hier bekommen junge Unternehmer ein Zuhause für die ersten Gehversuche auf dem freien Markt. Schon über 1.400 hochbezahlte Jobs haben die Firmen geschaffen, die vom JIC gefördert wurden.

Das Innovationszentrum und die Regionale Innovationsstrategie können wichtiger Baustein der „Strategie 2050“ sein, die Brünn zurzeit erarbeitet und die es konkurrenzfähig mit Europas Metropolen machen soll. „Wir wollen moderner, offener, smarter und ökologischer werden“, fasst Lucie Mezníková die Eckpunkte des Papiers zusammen.

Deutsche Firmen wenig präsent

Bei deutschen Unternehmen ist dieses Signal bislang kaum angekommen. Von den über 650 Mitgliedsunternehmen der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer haben nur elf ihren Sitz in der südmährischen Messestadt. Prag kommt auf über 300 Einträge.

Zu den bekannten deutschen Firmen in Brünn gehört Bosch Rexroth. Der Hersteller von Antriebs- und Steuerungstechnik hatte sich 1990 für den Standort entschieden, weil er zentral in der damaligen Tschechoslowakei lag und eine lange Industrietradition hatte, erzählt Geschäftsführer Dětřich Robenek. Heute beschäftigt das Unternehmen dort rund 240 Mitarbeiter. Sie produzieren Hydraulikaggregate, konstruieren neue Modelle, sind in der Verwaltung, im Verkauf und Service tätig.

„Brünn ist nicht so kosmopolitisch wie Prag, die Preise und Arbeitskosten sind etwas niedriger. Das macht die Stadt konkurrenzfähiger“, sagt Robenek. Der Ort sei architektonisch „ein kleines Wien“, in dem alle wichtigen Behörden und Institutionen zu finden seien. Brünner Arbeitnehmer sind nach den Erfahrungen von Manager Robenek noch nicht so „großstadtverdorben“, stattdessen „flexibel, fleißig und offen für Herausforderungen am Arbeitsplatz“.

Doch bei allem Lob für Mährens Kapitale bleiben ein paar Wermutstropfen. „Größter Nachteil der Stadt ist die komplizierte Verkehrsanbindung“, erklärt Robenek. Internationale Linienflüge gibt es lediglich nach London, Eindhoven und München. Prag und Westeuropa sind nur über eine Autobahn zu erreichen, „die häufig überlastet ist.“

Central European Institute of Technology, Brünn. Bildquelle: Gerit Schulze
Viele Großprojekte in den kommenden Jahren

Dennoch überwiegen die Chancen, und mit einer Präsenz vor Ort könnten deutsche Firmen aktiver teilhaben an Großprojekten, die in Brünn anstehen. Für fast 50 Mio. Euro entsteht zurzeit das Janáček-Kulturzentrum mit einem Konzertsaal für die Philharmonie. Das Universitätskrankenhaus FN Brünn plant eine Geburtsklinik für fast 80 Mio. Euro. Eishockeyfans bekommen ein neues Stadion mit 12.000 Plätzen.

Als ambitioniertestes Projekt gilt der Hauptbahnhof, der in seinem jetzigen Zustand ein denkbar schlechtes Aushängeschild für Brünn ist. Noch ist unklar, ob das Areal saniert oder ein paar Hundert Meter verlegt werden soll. Bis zum Herbst könnte eine Studie für mehr Klarheit sorgen und anschließend ein Referendum stattfinden.

Ein weiteres spannendes Geschäftsfeld in Brünn ist die Brownfieldsanierung. Gleich 128 Brachflächen mit insgesamt fast 380 Hektar sind in der kommunalen Datenbank erfasst (http://bit.ly/Brno_Brownfield). Zu den Objekten gehören citynahe Grundstücke und riesige Industrieareale, wie eine 26 Hektar große Fläche beim Zetor-Traktorenwerk.

Solche Flächen würden dringend gebraucht, weiß Sebastian Kovačič, Consultant beim Immobilienvermittler CBRE in Brünn. „Mit drei bis vier Prozent ist die Leerstandsquote bei Industrieflächen sehr gering. Die Developer finden kaum geeignete Flächen, um neue Industriegebiete zu erschließen.“

Zu Brünns Problemen gehört, dass der Flächennutzungsplan aus dem Jahr 1994 stammt und 2020 seine Gültigkeit verliert. „Wegen dieser Unsicherheit scheuen viele Investoren eine Erschließung neuer Industriegebiete“, so Kovačič. Die Folge sind vergleichsweise hohe Preise für Produktions- und Logistikhallen. Nach Untersuchungen von CBRE kostet ein Quadratmeter Lager- und Industriefläche in Brünn durchschnittlich 3,15 bis 4,10 Euro Miete pro Monat und damit ähnlich viel wie im Großraum Prag. Zumindest in diesem Punkt hat Brünn die tschechische Hauptstadt bereits eingeholt.

Autor: Gerit Schulze, GTAI

Bildquelle des ersten Beitragsbildes: Gerit Schulze, GTAI

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