Energiesicherheit als neue Priorität
„Ohne Putin“ – Tschechien sucht Wege aus der Abhängigkeit
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat viele Gewissheiten auf den Kopf gestellt. Tschechien ist im Geschäft mit Russland beim Export relativ wenig exponiert. Die eigentliche Verletzlichkeit zeigt sich auf der Importseite.
Die wirtschaftlichen Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine machen sich in Tschechien nach und nach bemerkbar. Sie treffen auf ein Bruttoinlandsprodukt (BIP), das sich mit einem Wachstum von real 3,3 % 2021 noch nicht von der Corona-Rezession erholt hat, und eine Industrie, die noch immer mit dem Halbleitermangel ringt. Prognosen, die ursprünglich für 2022 ein Plus von rund 3 % vorhersahen, wurden infolge von Krieg und Sanktionen deutlich nach unten korrigiert.
Das Finanzministerium ging in der im April vorgestellten makroökonomischen Prognose nur noch von einer Zunahme des BIP um real 1,2 % aus. „Die gegenwärtige und künftige Entwicklung ist durch den Krieg in der Ukraine mit extremer Ungewissheit behaftet“, betonte Finanzminister Zbyněk Stanjura. Dadurch ist auch die Inflationserwartung mit 12,3 % möglicherweise angesichts der unvorhersehbaren Energiepreisentwicklung nicht das letzte Wort. Mit dem Krieg steht ein großes Fragezeigen hinter der Prognose zur weiteren Entwicklung. Ein eventueller Ausfall von Warenlieferungen, bei denen Russland und die Ukraine bedeutende Exporteure sind, würde die negativen Wirtschaftsauswirkungen erheblich vertiefen.
Im Außenhandel gering verflochten
Geht es nach dem Wert der ausgetauschten Waren, lag Russland 2021 auf Rang 10 der Außenhandelspartner. Die Verflechtung fällt eher gering aus: 2021 machten die Einfuhren aus Russland 3,5 % der Gesamtimporte aus. Bei den Ausfuhren ist die Exposition mit 2 % noch geringer.
Auf der Exportseite wirkt die Volkswirtschaft relativ robust – selbst wenn den Abbruch der Beziehungen zu Russland bestimmte Branchen und Unternehmen stärker spüren als andere. Von den tschechischen Warenlieferungen im Wert von 3,1 Milliarden Euro betraf das Gros Kraftfahrzeuge und Teile (26 %), Elektronik und Elektrotechnik (22 %) sowie Maschinen (16 %).
Energieimportabhängigkeit mit Tücken
Die eigentliche Verletzlichkeit zeigt sich auf der Importseite. Ende März 2022 legte das Ministerium für Industrie und Handel eine Studie zur Energieimportabhängigkeit Tschechiens vor. Diese ist von fast 26 % im Jahr 2010 auf 39 % 2020 gestiegen. Bezeichnet wird damit der Anteil der Nettoeinfuhr (Importe minus Exporte) an der verfügbaren Bruttoenergie. Im Vergleich zum EU-Durchschnitt von 58 % steht Tschechien gut da. Doch der Teufel liegt im Detail.
Das Ergebnis hängt vor allem mit den festen fossilen Brennstoffen und der nationalen Kohleproduktion zusammen. Die wies vor zehn Jahren noch Exportüberschüsse auf. Mittlerweile besteht eine Importabhängigkeit von 13 % – vor allem von Polen. Russland fällt als Lieferland insgesamt nicht groß ins Gewicht. Der im fünften Sanktionspaket der EU enthaltene Importstopp auf russische Kohle wirkt für Tschechien verkraftbar.
Beim Rohöl hingegen ist das mitteleuropäische Land komplett von Importen abhängig. Aus Russland stammte 2020 fast die Hälfte. Als Lieferanten sind aber auch Aserbaidschan, Kasachstan, die USA und Norwegen präsent, mit geringen Anteilen auch Saudi-Arabien und Nigeria. Diese aufgefächerte Importstruktur liefert Ansätze für mögliche Alternativen zum russischen Erdöl.
Bei Erdgas komplett auf Russland angewiesen
Anders ist es bei Erdgas, wo Tschechien neben einer verschwindenden Eigenproduktion von 2 bis 3 % ebenfalls vollkommen von den Einfuhren abhängt. Hier war Russlands Position 2020 als Lieferland absolut. Norwegen, das zehn Jahre zuvor bei der Importabhängigkeit noch mit 11 % im Boot war, spielte keine Rolle mehr.
Erdgas kommt als Energieträger in allen Sektoren der Volkswirtschaft zum Einsatz. In dem Maß wie der Anteil von Kohle an der Strom- und Wärmeerzeugung zurückging, stieg der von Gas als Übergangsressource bei der Dekarbonisierung der Energiewirtschaft.
Wie die vom Industrieministerium erstellte Gesamtenergiebilanz zeigt, verbraucht vor allem die Industrie Erdgas mit einem Endverbrauch von rund 85.000 Terajoule im Jahr 2020. Das waren 31 % des industriellen Endenergieverbrauchs. Baustoffproduktion, Lebensmittel- und Getränkeerzeugung, Chemie und Petrochemie, aber auch Maschinenbau und Transportmittelhersteller sind auf den Energieträger besonders angewiesen. Mit 78.000 Terajoule Erdgas decken die privaten Haushalte 26 % ihres Endverbrauchs. Bei kommerziellen und öffentlichen Dienstleistern sind es 44.000 Terajoule und 35 %.
Wege aus der Abhängigkeit
Mit dieser Angewiesenheit auf russische Gaslieferungen steht Tschechien in der EU nicht allein – ist aber stärker betroffen als viele andere Länder. In einer Studie schätzt Kreditversicherer Allianz Trade, dass der Verzicht auf Gasimporte aus Russland in der EU im Schnitt fast ein Zehntel des Endenergieverbrauchs betreffen würde. In Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Lettland wäre es mehr als doppelt so viel. Der Wert für die Tschechische Republik wird auf 24 % beziffert.
Bereits zwei Wochen nach Kriegsausbruch entwarf die EU den Plan REPowerEU. Dieser soll die Einfuhren von russischem Gas bis Ende des Jahres um zwei Drittel reduzieren. Zu den geplanten Maßnahmen zählen:
- Diversifizierung der Gasversorgung durch Einfuhren in flüssiger Form (LNG) oder über Pipelines
- beschleunigter Ausbau erneuerbarer Energien und der Elektrifizierung
- mehr Produktion und Einfuhren von Biomethan und Wasserstoff
- weniger fossile Brennstoffe in Wohn- und Geschäftsgebäuden, der Industrie und dem Energiesektor durch mehr Energieeffizienz
Um rasch voranzukommen, will Brüssel gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die passendsten Projekte ermitteln. Als Ausgangsbasis sollen die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne dienen.
Diversifizierung, erneuerbare Energien und Energieeffizienz
Tschechien will so schnell wie möglich unabhängig werden von russischem Gas. Die Solidarität mit der Ukraine und den flüchtenden Menschen ist in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überwältigend – auch vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung mit sowjetischer Gewalt. Eine Diversifizierungsstrategie bei Zulieferungen und Transporttrassen wird vorbereitet. Es geht unter anderem um norwegisches Gas, das etwa ein Viertel des Gasverbrauchs abdecken könnte. Die Regierung setzt dabei auf einen gemeinsamen Energieeinkauf der EU, ähnlich wie bei den Covid-Impfstoffen. Auch führt sie Gespräche über eine mögliche Zusammenarbeit beim Bau deutscher LNG-Terminals.
Parallel will sie erneuerbare Quellen und Energieeffizienz forcieren. Als energieintensives Industrieland verfügt Tschechien da über viel Potenzial. Schon bei Amtsantritt im Dezember 2021 hatte die Regierung von Petr Fiala den europäischen Green Deal als Chance bezeichnet, mindestens 100.000 Solardächer versprochen und die Rehabilitierung der erneuerbaren Energien. Infolge einer Überförderung vor über 10 Jahren waren diese in der Bevölkerung lange diskreditiert. Es gab kaum Bewegung bei neuen Kapazitäten. Der strikte grüne Transformationskurs der EU, den ab 2022 massiv frische Gelder begleiten, hatte diese Lähmung gerade beendet. Rückenwind kommt durch die explodierten Energiepreise, die manche Projekte auch ohne Förderung rentabel erscheinen lassen. Und nun durch die Entschlossenheit, von russischen Kohlenstoffen loszukommen.
Aufbauplan und Modernisierungsfonds finanzieren Projekte
„Die Unterstützung erneuerbarer Energien, besonders von Fotovoltaik-Systemen, ist wesentlich – nicht allein, um Emissionen zu senken, sondern auch um unsere Energieabhängigkeit von Russland zu minimieren“, beschrieb Industrieminister Jozef Síkela die doppelte Stoßrichtung. Sein Ministerium rief Mitte März Förderung über 4 Milliarden Kronen (über 160 Millionen Euro) für Solarsysteme samt Speicher aus. Die Mittel kommen aus dem nationalen Aufbauplan, der sich aus dem europäischen Fonds NextGenerationEU speist. Kleine, mittlere und große Unternehmen können sich bis Ende Juni 2022 mit Projekten bewerben. Weitere Runden werden folgen. Tschechiens Aufbauplan sieht bis 2026 für grüne Transformationsvorhaben 3,2 Milliarden Euro vor, davon mindestens die Hälfte für energiebezogene Projekte.
Noch wichtiger für die Abkehr von fossilen Brennstoffen ist der Modernisierungsfonds. Er basiert auf CO2-Emissionszertifikaten und unterstützt in zehn EU-Mitgliedsländern Mittel- und Osteuropas bis 2030 den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Tschechien erhält mit mindestens 6 Milliarden Euro den zweithöchsten Betrag nach Polen. Die Mittel fließen in alles, was Treibhausgasemissionen senkt: erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Speicher, Netze. Dabei finanziert das Programm HEAT die Modernisierung des Heizkraftsektors; ENERG unterstützt Produktionsbetriebe bei Emissions- und Energiesenkung; RES ist die wichtigste Förderquelle für erneuerbare Energien. Im März sprach Umweltministerin Anna Hubáčková weiteren 57 Fotovoltaik-Projekten Mittel in Höhe von 3 Milliarden Kronen (fast 123 Millionen Euro) zu. Es geht um große Solarkraftwerke, die vorwiegend auf Brownfields entstehen.
Boom bei Wärmepumpen und erste Projekte bei Biomethan
Die hohen Energiepreise haben bei Haushalten und Bauherren zu einem Run auf Wärmepumpen geführt. Verstärkt wird der Trend, da das Umweltministerium die Unabhängigkeit von russischem Erdgas steigern will. Dazu hat sie die Förderung für Wärmepumpen bei Familien mit niedrigen Einkommen erheblich angehoben und baut gleichzeitig die für Gaskessel bis Ende Mai 2022 ab. Das gilt auch für das Gebäudeeffizienzprogramm Nová zelená úsporám.
Als mögliche heimische Alternative für einen gewissen Teil der Gaseinfuhren gilt Biomethan. Tschechien steht da aber erst ganz am Anfang. Dank Förderinstrumenten gibt es zwar 450 Biogasanlagen, die Strom und Wärme erzeugen. Für Biomethan aber fehlten Anreize. Die Novelle des Gesetzes über geförderte Energiequellen, die seit 1. Januar 2022 in Kraft ist, will das mit der Einführung eines grünen Bonus für Biomethananlagen ändern. Obwohl sich auch technische Hindernisse auftun, gibt es erste Projekte. In Litomyšl will die Landwirtschaftsgenossenschaft ihre Biogasanlage effizienter nutzen, das Biogas mit einer speziellen Technologie zu Erdgas-Qualität aufbereiten und in das Gasnetz einspeisen.
Den günstigen Wind für grüne Quellen nutzt der Dachverband der erneuerbaren Energien Svaz moderní energetiky. Er startete einen Aufruf unter dem Motto „Ohne Putin“. Begleitet wird er von einer Website, die Haushalten, Firmen und Gemeinden dabei helfen will, von Gas- und Öllieferungen aus Russland unabhängiger zu werden.
Weitere Wirtschafts- und Brancheninformationen von Germany Trade und Invest zu Tschechien finden Sie unter www.gtai.de/Tschechien
Text: Miriam Neubert, Germany Trade & Invest