Interview mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Zuzana Zavarská, Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW)
Tschechien und die Visegrád-4-Staaten: „Es öffnet sich ein Fenster der Möglichkeiten“
Die Visegrád-4-Länder Tschechien, die Slowakei, Polen und Ungarn sind aus deutscher Sicht ein echtes Schwergewicht in Sachen Wirtschaftsleistung. Gemeinsam sind sie mit Blick auf das Handelsvolumen für Deutschland wichtiger als der Austausch mit China. Aber die V4-Länder sind sich nur manchmal einig und oft zerstritten. EU-Politik, Populismus, Pandemie und Ukrainekrieg machen ein gemeinsames Agieren immer wieder schwierig. Wo steht Tschechien wirtschaftlich innerhalb der Gruppe und wo liegen die größten Versäumnisse und Chancen? Darüber haben wir mit Zuzana Zavarská Anfang April gesprochen, gleich nach den Parlamentswahlen in Ungarn.
Victor Orban und seine Fidesz-Partei haben bei den Parlamentswahlen Anfang April in Ungarn erneut eine Verfassungsmehrheit erreicht. Hat Sie das Ergebnis überrascht?
Der Sieg selbst war nicht so überraschend, sondern das Ausmaß, also dass er mit solch einer Stärke gewinnt und eine verfassungsmäßige Mehrheit bekommt. Dazu hat auch der Konflikt in der Ukraine beigetragen, der es ihm ermöglicht hat, seine Propaganda im Land zu verstärken.
Welche Bedeutung hat dieser nationalistische Kurs Ungarns für Tschechien in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht?
Diese Divergenz zwischen Polen und Ungarn auf der einen Seite und der Slowakei und Tschechien auf der anderen führt zu einer Kluft in der Visegrád-Gruppe sowie zu einer politischen Fehlausrichtung. Wir sehen große Unterschiede in ihren EU-Aufbau- und Resilienzfazilitäten. Tschechien und die Slowakei bemühen sich, diese Finanzierungen zu erhalten. Seitens Polen und Ungarn hingegen gibt es Blockaden. Das wird das Wachstum dieser Länder behindern. Es wird geschätzt, dass mit diesen Finanzierungsfonds etwa 1 % mehr Wachstum hinzukommt. Das hat aus wirtschaftlicher Sicht nicht zu vernachlässigende Auswirkungen. Auch in der Slowakei gibt es populistische Tendenzen. Die bevorstehenden Wahlen könnten die Visegrád-Gruppe weiter umformen. Diese Tendenzen, dieses Flirten mit Populisten, sollte in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden, gerade auch mit Blick auf Investitionen. Diese Länder sind sehr abhängig von ausländischen Direktinvestitionen.
„Flirten mit Populisten nicht unterschätzen“
Wenn Sie ein Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes hätten sowie ein Unternehmen, das mehr auf F&E-Strukturen angewiesen ist, in welches Land der V4-Gruppe würden Sie jeweils expandieren?
Traditionell stehen diese vier Länder und die größere CEE-Region in Bezug auf ausländische Direktinvestitionen in engem Wettbewerb, so dass es sehr schwierig zu sagen ist, welches Land das Beste ist. Vieles hängt von den steuerlichen und finanziellen Anreizen ab. In der Tschechischen Republik macht sich der Arbeitskräftemangel bemerkbar. Das kann sich hemmend auf künftige Investitionen auswirken. Im Vergleich zur Slowakei ist das Land jedoch sehr gut aufgestellt. Es kämpft nicht in gleichem Maße mit Brain Drain, mit der Abwanderung von Fachkräften, und zieht tatsächlich viele hochqualifizierte Studenten ins Land. Außerdem ist die Recovery & Resilience Facility für die Tschechische Republik und die Slowakei genehmigt worden, es geht voran. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, Polen und Ungarn zu überholen, die aus Sicht der Investoren eher etwas negativer assoziiert werden. Politische Stabilität ist für Investoren von größter Bedeutung.
Sie sagten es, Steuern und Arbeitskräfte sind von großer Bedeutung. Wenn Sie die V4-Länder daraufhin vergleichen, wo steht da die Tschechische Republik?
Was die Steuern angeht, hat Ungarn die niedrigsten. Dort liegen sie mit 9 % im einstelligen Bereich. Die Tschechische Republik, die Slowakei und Polen liegen alle bei einer Quote von rund 20 %. Am entgegenkommendsten ist da natürlich die Politik in Ungarn. Die Regierung Orban war sich durchaus bewusst, wie wichtig es ist, geeignete Investoren zu haben.
Ungarn isoliert sich selbst nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der V4-Gruppe? Wird das die Investoren beeinflussen?
Das ist schwer zu sagen. Investitionen sind sehr langfristige Entscheidungen, daher ist es unwahrscheinlich. Bereits dort ansässige Unternehmen werden nicht aufgrund von Entwicklungen im Rahmen politischer Zyklen, die sich von Natur aus ständig ändern, das Land verlassen. Eine allzu große Kapitalflucht aus dem Land sollten wir aufgrund dieser Wahlergebnisse nicht erwarten. Allerdings sehen wir zunehmend die Auswirkungen auf den Ruf von Investoren, die in bestimmten Regionen tätig sind, insbesondere bei den Verbrauchern, die ihre Kaufentscheidungen ethisch bewusster treffen. Die V4-Staaten haben jedoch im Osteuropa-Vergleich weiterhin einen hervorragenden Ruf. Ich denke, Investoren würden dennoch weiterhin zu dem Schluss kommen, dass die Region sehr attraktiv ist.
„Im Osteuropa-Vergleich weiterhin einen hervorragenden Ruf“
Die Inflation ist in der Tschechischen Republik am höchsten – warum? Und was ist das wirtschaftliche Risiko?
Es gibt keine einheitliche Meinung zu den Gründen. Es gibt mehrere Faktoren, z. B. die Tatsache, dass die Tschechische Republik ein wichtiger Produktionsstandort ist, der sehr stark von ausländischen Zulieferungen abhängig ist, was sich im Moment durch die Engpässe in der Lieferkette noch verschlimmert. Dazu kommen die Energiekrise und weitere externe Ereignisse, die für die Region recht einheitlich sind und sich auch auf die Nachbarländer auswirken. Eine zusätzliche die Struktur des tschechischen Arbeitsmarktes mit seinem erheblichen Fachkräftemangel. Das treibt die Löhne in die Höhe, und gleichzeitig hat sich der Konsum in letzter Zeit nicht deutlich verlangsamt. Es ist eine Kombination aus hausgemachten und externen Schocks, die die Preise für Rohstoffe und Energie in die Höhe getrieben haben.
Wie geht es der tschechischen Wirtschaft nach zwei Jahren Pandemie und dem Ausbruch des Ukraine-Krieges wirklich? Wie würden Sie diesen Zustand im Moment zusammenfassen?
Vor Ausbruch des Krieges waren die Aussichten positiv, aber jetzt haben sie sich geändert. Wir erwarten ein geringes Wachstum mit einer Verlangsamung in allen Komponenten des BIP. Die Investitionen werden sich ebenso wie der Konsum verlangsamen, da die Preise steigen und die Verbraucher vorsichtiger in ihrem Ausgabeverhalten werden. Die wichtigste Komponente, durch die sich das BIP verlangsamen wird, ist der Handel. Man dachte, dass die Schocks in der Lieferkette nachlassen würden, stattdessen werden sie immer akuter. Die Tschechische Republik wird nun in eine Phase doppelter Defizite eintreten, eines Leistungsbilanzdefizits und eines Haushaltsdefizits. Dies ist etwas Neues für das Land, das normalerweise auf beiden Seiten Überschüsse aufweist.
„Tschechien tritt in eine Phase doppelter Defizite ein“
Die Automobilindustrie ist eine Schlüsselindustrie in Tschechien und den V4-Ländern insgesamt. Was geschieht jetzt mit dem Sektor, der das Wirtschaftswachstum zu großen Teilen trägt?
Aufgrund des sich wandelnden Konsumverhaltens und der grünen Transformation wird sich dieser Sektor stark verändern. Wenn wir uns die Produktion von Elektrofahrzeugen und Fahrzeugen mit alternativen Antrieben ansehen, ist die Position der V4-Staaten in diesen neuen Bereichen nicht so gefestigt. Es gibt Möglichkeiten, einen Sprung nach vorn zu machen, aber das wird nicht einfach sein. Eine erhebliche Steigerung bei Forschung und Entwicklung ist erforderlich und es wird eine Herausforderung sein, das Wirtschaftsmodell von der einfachen Montage dieser Fahrzeuge auf Aktivitäten mit höherer Wertschöpfung umzustellen. Bei der derzeitigen Konstellation besteht die Gefahr, dass alle Transformationen in der Industrie weiterhin von den so genannten „Headquarter“-Volkswirtschaften diktiert werden, anstatt innerhalb der Grenzen dieser Länder vorangetrieben zu werden.
Die tschechische Regierung unter Andrej Babiš hat die Elekromobilität erst unterstützt, als es die Chance gab, eine neue VW-Batteriefabrik in Tschechien zu errichten. Vorher stand die Regierung bei diesem Thema auf der Bremse. Wessen Schuld ist es, dass die Chance dieser Transformation nicht genutzt wurde?
Ich würde nicht sagen, dass die Chance bereits völlig verpasst ist. Allerdings müssen diese Länder strategischer vorgehen. Früher haben sie einfach Investoren hereingelassen, das Wachstum folgte, und die politischen Entscheidungsträger haben sich zurückgelehnt und zugeschaut. Jetzt bietet sich die einmalige Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass nicht nur Montage stattfindet, sondern die Politik unterstützend eingreift. Das bedeutet höhere F&E-Investitionen, eine bessere Ausbildung, die Verknüpfung der Ausbildung mit den Bedürfnissen des Marktes und eine Ausrichtung auf Segmente mit höherem Mehrwert. Dies ist eine einzigartige Gelegenheit, weil die Positionen dieser V4-Länder nicht so gefestigt sind. Es öffnet sich ein Fenster der Möglichkeiten, aber es gibt da keinen Automatismus. Es wird eine sehr große Herausforderung für die V4-Staaten sein.
„Politische Entscheidungsträger haben sich zurückgelehnt und zugeschaut“
Die V4-Volkswirtschaften haben ähnliche strukturelle Probleme. Aber was können die Polen besser als die Tschechen oder umgekehrt? Angeblich haben die Polen weniger bürokratische Hürden, wenn es darum geht, ausländische Arbeitskräfte ins Land zu holen. Stimmt das?
Ja, auf alle Fälle. Sie waren offener und hatten eine große Anzahl ukrainischer Arbeitnehmer. Außerdem hat Polen den Vorteil, dass die dortige Wirtschaft viel stärker diversifiziert ist. Das hat sich vor allem in Krisenzeiten gezeigt. Sie sind nicht so sehr von einem Sektor abhängig und haben ein starkes Fundament an kleinen und mittleren Unternehmen. Das verschafft den Polen einen Vorteil. Tschechien hat eine sehr solide industrielle Basis, die Innovationen begünstigt. Die Anwerbung internationaler Studentinnen und Studenten ist etwas, was Tschechien im Vergleich zur übrigen MOE-Region, die so sehr von Abwanderung geprägt ist, außergewöhnlich gut gelungen ist.
Angesichts des Fachkräftemangels in der Tschechischen Republik ist der Grad der Automatisierung und Digitalisierung sehr hoch. Ist dies ein langfristiger Wettbewerbsvorteil innerhalb der V4-Gruppe oder ist das nur aus der Notwendigkeit heraus geboren?
Ich bin sicher, dass dies ein großer Vorteil sein kann. Die Tatsache, dass die Automatisierung notwendig ist, treibt sicher auch die Produktivität voran, weil einfache Aufgaben mit geringer Wertschöpfung zuerst automatisiert werden. Das kann für das Land einen sehr guten Produktivitätsschub bedeuten. Allerdings darf man die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer nicht vergessen. Derartige Strukturveränderungen in der Wirtschaft verursachen soziale Kosten. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Arbeitnehmer umzuschulen und kontinuierliches Lernen zu fördern. Diese Maßnahmen stellen sicher, dass es keine soziale Schieflage gibt.
Welche Rolle spielt der Euro im V4-Vergleich? Die Slowakei ist das einzige Land, das den Euro eingeführt hat. Immer mehr Investoren fordern die Einführung auch in der Tschechischen Republik. Woran liegt das?
Dass die Slowakei den Euro hat, spielt keine so große Rolle. Das sehen wir an Indikatoren wie dem Entwicklungsverlauf und der Höhe der Investitionen, die das Land anzieht. Die sind ähnlich wie bei den anderen V4-Staaten. Ich würde nicht sagen, dass die bloße Einführung des Euros Vorteile mit sich gebracht hat. Auch weil andere Volkswirtschaften so eng mit der EU und den globalen Wertschöpfungsketten verflochten sind, tendieren sie dazu, sich eng am Euro zu orientieren. Angesichts der hohen Inflation gibt dies den einzelnen Volkswirtschaften allerdings einen gewissen Spielraum, ihre eigene Geldpolitik zu verfolgen. Diese Abweichung ist ziemlich signifikant. Im Vergleich zur EZB hat sich die Tschechische Nationalbank schneller und drastischer bewegt. Eine eigene Geldpolitik zu verfolgen, hat im Moment Vorteile. Es ermöglicht eine individuelle Reaktion auf die Situation.
Es gibt viele Stimmen, die sagen, uns drohe eine Stagflation. Was ist davon zu halten?
Ich denke, die Bedingungen in Tschechien und in der Region sind recht günstig. Es ist schwierig, in einem solchen Zeitraum Prognosen zu treffen, aber ich wäre nicht so besorgt wie einige andere Wirtschaftsexperten.
Nearshoring könnte eine Chance für die Tschechische Republik sein, Unternehmen ins Land zu bringen. Glauben Sie, Tschechien hat gute Chancen, von diesem Trend zu profitieren? Was sollte die Regierung wirtschaftspolitisch tun?
Es ist auf jeden Fall eine Chance! Während der Pandemie hätte man denken können, dass diese Störungen nur vorübergehend sind. Jetzt haben wir innerhalb von nur 2 Jahren einen weiteren Schock. Die Struktur hat sich verschoben. Es ist riskanter geworden, eine global verteilte Wertschöpfungskette zu haben. Es wird keinen drastischen Ansturm geben, nach Hause zurückzukehren, sondern eher eine schrittweise Reihe von Investitionen und Entscheidungen, die zu stärker regionalisierten Wertschöpfungsketten führen. Vor allem bei Neuinvestitionen könnte man sich für eine Produktion in der Nähe entscheiden. In dieser Hinsicht ist die Tschechische Republik hervorragend positioniert. Es gibt riesiges Potenzial. Allerdings wird nur die Rückbringung von Fertigungsanlagen der tschechischen Wirtschaft nicht viel bringen, da die heutigen Beeinträchtigungen wohl auch künftig bestehen werden.
Ist der Mangel an Arbeitskräften in Tschechien ein lösbares Problem? Verfügt das Land über die demografische Kapazität für einen so großen Industriesektor?
Die Automatisierung wird eine wichtige Maßnahme zur Behebung des Arbeitskräftemangels sein, aber es muss auch eine entgegenkommende Arbeitsmarktpolitik geben. Das bedeutet, dass die Verfügbarkeit von Kinderbetreuung verbessert oder flexiblere Arbeitszeiten gefördert werden müssen, um die Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erhöhen – daran hapert es in Tschechien und der Slowakei. Was den Zustrom ukrainischer Flüchtlinge betrifft: Im Moment sind es hauptsächlich Kinder und Frauen, die in das Land kommen, es geht um kurzfristige Arbeit, aber das kann sich im Laufe der Zeit auch auswirken. Dies sind also die drei Hauptfaktoren – Automatisierung, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Migration –,die Tschechien einen entspannteren Arbeitsmarkt bringen können.
Zuzana Zavarská ist gebürtige Slowakin und Wirtschaftswissenschaftlerin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw). Ihre Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf die wirtschaftliche Entwicklung und Konvergenz der Visegrád-4-Staaten, ihre Integration in globale Wertschöpfungsketten sowie die Rolle ausländischer Direktinvestitionen in der Entwicklung. Sie hat einen MPhil-Abschluss (Development Studies) der University of Cambridge und einen MA-Abschluss (International Business) der University of Edinburgh. Bevor sie zum wiiw kam, arbeitete sie als politische Beraterin im Regierungsamt der Slowakischen Republik.
Interview: Christian Rühmkorf
Foto: Archiv Zuzana Zavarská