Interview mit Helena Horská, Chefökonomin der Raiffeisenbank
„…damit Tschechien das zweite Estland wird“
Ende letzten Jahres protestierte sie gegen die Haushaltspolitik der Regierung, in dem sie ihr Mandat als Beiratsmitglied beim Finanzministerium zurückgab. Als Mitglied der unabhängigen Expertenplattform KoroNERV-20 bringt sie ihre Erfahrung ein, um gemeinsam einen Ausweg aus der aktuellen Krise zu finden. Helena Horská studierte an der Prager Wirtschaftsuniversität VŠE und am Institut für Weltwirtschaft in Kiel und gehört als Chefökonomin und Mitglied des Aufsichtsrats der Raiffeisenbank zu den profiliertesten Wirtschaftsexperten in Tschechien. Mit ihr sprachen wir darüber, wie das mit der Wirtschaft eigentlich alles weitergehen soll, damit die Geschichte ein gutes Ende findet.
Über ein Jahr ist seit dem Ausbruch der Pandemie vergangen. Die tschechische Wirtschaft befand sich damals in einer relativ guten Verfassung. Wie hat die Krise die Wirtschaft verändert?
Corona hat die Wirtschaft quasi gespalten. Sektoren, die auf Face-to-face-Kontakten basieren, sind natürlich anfälliger und stärker von der Krise betroffen. Es geht vor allem um Dienstleistungen. Tschechien hat dabei einen gewissen Vorteil: Der Anteil des tertiären Sektors an der gesamten Wirtschaftsleistung ist geringer als in Österreich oder Deutschland. Was uns zu einer sogenannten alten Ökonomie oder zu einer weniger modernen Volkswirtschaft macht, bei der Dienstleistungen einen geringeren und die Industrie einen höheren Anteil an der Wertschöpfung ausmachen – und das stellt sich plötzlich als Vorteil heraus.
Tschechien will weg von der „Billig-Wirtschaft“. Aus diesem Grund startete Vizepremier Havlíček im Jahr 2019 eine Innovationsstrategie. Und nun sagen Sie, dass der Status quo eigentlich ein Vorteil ist?
Abkehr von der „Billig-Wirtschaft“ muss nicht Abkehr von der Industrie bedeuten. Da würde man das Kind mit dem Bade ausschütten. Tschechien hat durch die Industrie seit jeher einen echten Wettbewerbsvorteil. Wir müssen den Akzent stärker auf den Mehrwert und auf produktionsnahe Dienstleistungen legen, das ist mit der Corona-Krise meiner Meinung nach sogar noch deutlicher geworden. Im Klartext: Wir müssen dem Kunden eine Komplettlösung liefern, nicht nur die bloße Maschine oder ein Zahnrad. Das ist für mich „The Country for the Future“. Sich etwas ausdenken, produzieren, implementieren, auf den Markt bringen, instandhalten.
„Covid-19 hat klar gezeigt, worin unser Staat versagt.”
Tschechien könnte in dieser Zeit seine eigenen Firmen unterstützen, die hervorragende Produkte entwickelt haben, etwa PCR-Tests oder Nano-Schutzmasken. Trotzdem bestellt die Regierung diese Sachen in China. Offenbar fällt es ihr schwer, die eigene Strategie in die Praxis umzusetzen.
Vollkommen richtig beschrieben. Bei der Anzahl von Strategien ist Tschechien wahrscheinlich Primus. Wir können uns ausmalen, wie schön etwas sein könnte, aber können es überhaupt nicht umsetzen. Manchmal steckt ein bisschen Ungeschicktheit oder der Amtsschimmel dahinter, mitunter geschieht das aber auch mit Absicht. Meiner Meinung nach hat die Regierung den Spielraum, mit dem sie einen einheimischen, schnell anpassungsfähigen Sektor unterstützen kann, wirklich nicht genutzt. Nehmen wir einmal konkret „The Country for the Future“, eines von Dutzenden Programmen. Ausgerechnet die Firma Nanospace von Jiří Kůs (ein Hersteller von Nano-Produkten, Anm. d. Red.) erhielt zum Beispiel keine staatliche Hilfe, zumindest nicht am Anfang. Aber für die Lebensmittel-Autarkie gab unser Land im vorigen Jahr eine Milliarde Kronen aus. Offensichtlich haben neue Technologien – und eine schnelle und effektive Hilfe dafür – für den Staat keine Priorität. Anstatt maximal die Produktionskapazität einheimischer Firmen auszunutzen, kaufen wir minderwertige Produkte, die oftmals nicht getestet wurden und Probleme mit der Zertifizierung haben. Und inländische Hersteller lassen wir im Stich. In diesem Fall hat Covid-19 klar gezeigt, worin unser Staat versagt.
Der wichtigste Schritt sind nun die Impfungen. Laut unserer aktuellen Umfrage ist eine deutliche Mehrheit der Unternehmen (76 %) bereit, ihre Betriebsstätten für Impfungen zur Verfügung zu stellen. Sie wollen dazu beitragen, dass die staatliche Impfkampagne – sobald genügend Impfstoff vorhanden ist – schneller und effektiver abläuft. Die meisten Firmen sind auch bereit, die Kosten dafür zu übernehmen. Ist Tschechien hinreichend vorbereitet auf die Impfkampagne?
Auch bei der aktuellen Umfrage der Raiffeisenbank und des Verbands der Exporteure geht es um die Bereitschaft der Firmen, ihre Mitarbeiter bei sich und auf eigene Kosten impfen zu lassen. 69 % der befragten Exporteure sprechen sich dafür aus, dass die Beschäftigten vorrangig am Arbeitsplatz geimpft werden, nur 12 % dagegen. Es zeigt, dass die Unternehmen Verantwortung übernehmen und sich der Bedeutung des Impfens bewusst sind. Wir sind nicht Israel, haben kein digitalisiertes Gesundheitssystem, wodurch sich auch ältere Menschen ohne Probleme und ohne fremde Hilfe für eine Impfung registrieren können. Als es mit den Impfungen der älteren Bevölkerungsgruppen losging, wusste man kaum etwas über die Impfstoffe und es fehlte auch an Erfahrung. Die anfängliche Verunsicherung, die spärlichen und oft auch verzerrten Informationen – all das hätte mit der persönlichen Arzt-Patienten-Beziehung überwunden werden können. Ich denke, der Staat hat das nicht genutzt und es sich am Anfang unnötig schwer gemacht.
Vielleicht wird es noch aktuell und die Regierung greift auf die Infrastruktur der Betriebe zurück …
Dazu wird es bestimmt kommen. Im Moment geht es darum, dass genügend Impfstoff vorhanden ist, um auch die erwerbsfähige Bevölkerung zu immunisieren, die übrigens die Kosten der gesamten Corona-Krise trägt. Einige Sektoren leiden, andere wachsen, zum Beispiel Online-Dienste, die bereits 8 % des tschechischen BIP abdecken und der Automobilindustrie damit allmählich Konkurrenz machen. Darüber wird kaum gesprochen. Und wir müssen uns um unsere Kinder kümmern. Ihre Ausbildung hat auch einen Einfluss darauf, wie gut wir es als Rentner haben werden.
Man sagt, dass die Krise eine Chance sei. Haben Sie eine Idee, worauf sich Unternehmen jetzt genau konzentrieren sollten, wie es weitergehen soll?
Das ergibt sich aus der Schwäche (nicht nur) der tschechischen Wirtschaft, die vor allem mit der großen Abhängigkeit von billigen Arbeitskräften zusammenhängt. Arbeit ist nicht mehr billig, es gibt nicht einmal genug Arbeitskräfte. Wir haben eine alternde Bevölkerung, und in den Arbeitsmarkt treten immer geburtenschwächere Jahrgänge ein. Der Arbeitsmarkt zwingt die Unternehmen in die digitale Infrastruktur, in die Automatisierung und Robotisierung zu investieren. Öffentliche und private Gelder müssen miteinander kombiniert und ein leistungsstarkes, engmaschiges 5G-Hochgeschwindigkeitsnetz aufgebaut werden. In jeder Ecke unseres Landes brauchen wir eine stabile und schnelle 5G-Verbindung, der Ausbau steht an erster Stelle. Ein weiterer Punkt: In Tschechien gibt es etwa 120 Roboter auf 10.000 Einwohner, in Deutschland sind es 300. Mit anderen Worten: Wir müssen die Robotisierung der Arbeit vorantreiben. Eine wichtige Rolle spielt auch die Qualifikation. Wir brauchen eine Reform des Bildungssystems, die sich an den neuen Bedürfnissen orientiert. Anstatt dass die Kinder Fakten pauken, sollten sie in der Schule bestimmte Fertigkeiten erlernen. Unsere Regierung ist auch beim Ausbau der physischen Verkehrsinfrastruktur im Hintertreffen. Dabei geht es nicht nur um unvollendete Autobahnen, sondern auch um Hochgeschwindigkeitsstrecken, sehr gute, vor allem sichere Verbindungen. Tschechien ist für sein dichtes Schienennetz bekannt, das jedoch nicht vollständig modernisiert ist. Ein weiteres Problem ist das Wohnen. Und so könnte ich weitermachen.
„Inseln der positiven Deviation”
Sie sagen das auch als Mitglied von KoroNERV-20. Die Plattform empfiehlt der Regierung, wie bereits erwähnt, in Digitalisierung, Robotisierung, Nanotechnologie, Pharmazie und Bildung zu investieren. Aber im Prinzip versucht jetzt jeder Industriestaat, ein Musterschüler auf dem Gebiet der Digitalisierung zu sein. Wird der europäische und globale Wettbewerb für Tschechien nicht zu groß?
Wir müssen unsere Wettbewerbsvorteile bei den Nanotechnologien oder im Bereich E-Commerce nutzen. Dort gehören wir fast zur europäischen Spitze. Unseren Unternehmen fehlt jedoch in der Regel der Ehrgeiz, sich nicht nur in Europa, sondern auch weltweit durchzusetzen. Einige Firmen bemühen sich darum. Der Logistikdienstleister Zásilkovna zählt zu den tschechischen Unternehmen, die die Grenzen Europas überschreiten und schon auf dem Weltmarkt tätig sind. Es gibt bei uns einige Beispiele für die ersten – so nenne ich sie – „Inseln der positiven Deviation“. Aber um ein Big Player zu sein, brauchen wir Hunderte, Tausende solcher Firmen. Damit man sagen kann, dass Tschechien das zweite Estland oder das zweite Israel ist.
Gerade Estland hat Tschechien im Standort-Ranking unserer AHK-Konjunkturumfrage schon vor zwei Jahren überholt – aufgrund der Digitalisierung.
Wo aber hat es in Estland begonnen? Beim Staat und bei den Nutzern, die digitale Dienstleistungen eingefordert haben. Und in Tschechien? Wir sprechen darüber, was die Unternehmen tun sollten, scheitern aber vor allem an der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und ihrer Dienstleistungen. Das ist eine Hürde, die wir überwinden müssen, ansonsten geht´s nicht voran.
„Das war ein Wunschzettel an das Christkind”
Viel Geld kommt jetzt aus Brüssel, die Regierungen der EU-Staaten legen ihre „Nationalen Aufbaupläne“ vor. Den Mitgliedstaaten sollen Mittel für zusätzliche Investitionen, für einen Neustart nach der Corona-Krise bereitgestellt werden. Der Rahmen für die Verwendung der Gelder ist abgesteckt, die Projekte sollen sich größtenteils auf die grüne Transformation der Wirtschaft, die Energiewende, Digitalisierung und Bildung konzentrieren. Wie bewerten Sie den Regierungsvorschlag? Oft wird kritisiert, dass eine Gesamtvision fehle.
Der grundlegende Fehler wurde am Anfang gemacht. Die meisten Ökonomen, die ich kenne, haben den sogenannten Nationalen Investitionsplan kritisiert, der dann in den Nationalen Aufbauplan eingearbeitet wurde. Diesen Nationalen Investitionsplan habe ich damals bezeichnet als einen Wunschzettel an das Christkind , den meine Kinder im Alter von fünf Jahren geschrieben haben. Eine Liste, die sich ständig änderte. Im November geschrieben, standen im Dezember schon viel mehr oder sogar völlig andere Sachen drauf. Eine Liste von allem Möglichen, was einem gerade in den Sinn kommt. Wir müssen aber wissen, wie wir die Wirtschaft mit diesem Geld verändern wollen. Wenn die Mitglieder Ihrer Kammer eine Investition planen, wissen sie, was sie damit erreichen wollen. Auch die Risikomanager in unserer Bank wollen von den Firmen wissen, mit welchem Umsatz sie aufgrund der Investition rechnen, wie stark die Ausgaben sinken und was damit geschehen soll. So etwas muss auch der Staat bedenken, dem im Nationalen Aufbauplan über 172 Milliarden Kronen zur Verfügung stehe. Eine gewaltige Summe. Und deshalb müssen wir eben wissen, wie unsere Wirtschaft in einem Horizont von drei bis fünf Jahren aussehen soll. Zum Beispiel: Wir wollen auf den Quadratkilometer bezogen so und so viele Ladestationen für die Elektromobilität. Und weil wir die Elektromobilität unterstützen wollen, werden wir sowohl für die öffentliche Verwaltung als auch für Städte und Gemeinden Elektroautos kaufen, einheimische Hersteller unterstützen und die Nachfrage nach Elektromobilität stärken. So etwas vermisse ich dort im Plan teilweise.
„Es fehlen Dankbarkeit und eine gewisse Verbundenheit”
Nachhaltigkeit bildet im Grunde das Rückgrat des „Green Deal“ für Europa. Ist dieser hohe Stellenwert gerechtfertigt? Und die zweite Frage: Wünschen Sie sich, dass die tschechische Regierung ihre Sicht auf die Nachhaltigkeit ändert?
Ja, wir brauchen eine andere Denkweise. Nicht Wachstum um jeden Preis, sondern ein Wachstum, das mit keinem Raubbau an natürlichen Ressourcen einhergeht. Wir brauchen Innovationen, Investitionen und Regionalisierung. Für Tschechien ist das eine große Herausforderung. Die globalen Produktionsketten werden sich ändern. Es hat sich gezeigt, dass Schocks wie die Corona-Krise die Kunden-Lieferanten-Beziehungen erheblich destabilisieren können. Da der Druck zur Ökologisierung und zur CO2-Reduktion steigt, werden wir womöglich eher zu kürzeren Lieferketten neigen. Dadurch vertiefen wir die Beziehungen innerhalb der Region, was durchaus Sinn ergibt. Das ist keine Revolution. Wir werden weiterhin eine mittelgroße offene Volkswirtschaft sein, die ihre Handelspartner braucht. Aber wir können unsere Beziehungen auf menschlichen Werten, auf Vertrauen und Zuverlässigkeit aufbauen, und darauf, dass wir uns gegenseitig zuhören und in gewisser Weise rücksichtsvoll miteinander umgehen. Das ist das, was die Tschechische Republik bzw. ihr Premierminister nicht ausreichend betont: Es ist ein Vorteil für uns, in Europa zu sein. Es fehlt die Dankbarkeit und eine gewisse Verbundenheit , Nachhaltigkeit, Rücksichtnahme – und außerdem die Einsicht, wenn es anderen nicht gut geht, dann geht es uns auch nicht gut. Das ist für uns alle einer der Wege, wie wir alle künftigen Schocks und Krisen überwinden können.
Noch eine kurze Einschätzung. Nimmt die „Post-Corona-Geschichte“ für die tschechische Wirtschaft ein gutes Ende?
Ja, ich denke schon. Es hat sich gezeigt, dass die tschechische Wirtschaft unglaublich robust ist. Damit meine ich vor allem die Menschen, denn sie machen die Wirtschaft. Dass die tschechische Wirtschaft keinen Sturzflug im zweistelligen Prozentbereich hinlegte und es am Jahresende zu einer Belebung in der Industrie und der Exportwirtschaft kam, hatte seinen Grund. Hier gab es Manager, die für die Leute Arbeit fanden. Selbst in der Krise fanden sie Möglichkeiten, trotz aller Schwierigkeiten, Fallstricke, der Ansteckungsgefahr und Problemen bei der Arbeitsorganisation. Und das alles haben sie ohne irgendeine großartige Unterstützung des Staates geschafft.
Interview: Christian Rühmkorf
Foto: Raiffeisenbank