Interview mit Eduard Palíšek, country CEO und Generaldirektor SIEMENS CZ

„Die tschechische Industrie steht heute am Scheideweg“

Siemens ist eines der Top-Technologieunternehmen weltweit, in Tschechien übrigens schon seit über 130 Jahren am Werk. Und Eduard Palíšek ist einer der erfahrensten Top-Manager Tschechiens, seit über elf Jahren steuert er Siemens CZ als Country CEO und Generaldirektor. Er ist eine gute Adresse, wenn man in unsicheren Zeiten wissen will, wohin die Reise gehen könnte.

Herr Palíšek, wir befinden uns noch immer in der größten Krise, die wir je erlebt haben. Persönliche Kontakte sind seit langem heruntergefahren, digitale Kommunikationslösungen haben sie einstweilen ersetzt. Vieles ist dadurch distanzierter, unpersönlicher – vieles aber auch schneller und effektiver. Wie erleben Sie diese Zeit als Top-Manager, überwiegen eher die Chancen?

So etwas, wie die aktuelle Situation, haben wir natürlich noch nie erlebt. Die Corona-Pandemie hat uns alle betroffen, nicht nur durch ihre Tragweite und Dauer, sondern auch durch die ungeheure Informationsflut. Der Großteil der Kommunikation hat sich in den Online-Bereich verlagert. Und der ist einerseits sagenhaft schnell und umfangreich, andererseits aber auch unzuverlässig, was die Qualität und den Wahrheitsgehalt angeht. Kritisches Denken ist also gefragt, von uns allen. Persönlich denke ich, dass eine Kombination aus Online- und persönlicher Kommunikation optimal ist. Persönlich lassen sich Informationen, Ansichten und Gefühle viel intensiver austauschen. Das gilt jedoch nur für Menschen. Maschinen brauchen keine persönliche Kommunikation. Sie merken keinen Unterschied, ob man etwas über ein Display direkt an der Maschine programmiert oder per Fernzugriff von zuhause aus. Und genau hier hat die Pandemie neue Möglichkeiten eröffnet, etwa in den Bereichen Industrie, Infrastruktur, Healthcare und Dienstleistungen.

Mit sieben Fertigungsstandorten und weit über 10.000 Mitarbeitern gehört Siemens zu den Technologie-Riesen im Land. Wie schwierig war es, von heute auf morgen die Corona-Pflichttests an den Standorten durchzuführen? Und wie hoch war der Anteil positiver Tests?

Das Testen schaffen wir ohne Probleme. In unseren Betrieben konnten sich die Mitarbeiter schon im letzten Quartal 2020 auf freiwilliger Basis testen lassen. Viele von ihnen finden es gut, dass sie direkt in der Arbeit einen Test machen können – dadurch können sie schließlich auch ihre Angehörigen und Kollegen schützen. Da wir seit Beginn der Pandemie eine ganze Reihe von Maßnahmen für den Gesundheitsschutz unserer Mitarbeiter eingeführt haben, fiel der Anteil positiver Test sehr gering aus – zu Beginn lag die Quote bei etwa 0,5 Prozent, danach ging sie immer mehr zurück. Leider hat uns die Tatsache, dass Tschechien – gemessen an der Einwohnerzahl – weltweit die meisten Corona-Toten hat, auch direkt betroffen: Sechs unserer Kollegen sind an Covid-19 gestorben.

Mit welchen Bilanzen ist Siemens durch das schwierige vergangene Jahr gekommen? Welche Entwicklung erwarten Sie für das laufende Jahr?

Insgesamt betrachtet gut. Natürlich hatten wir mit Lieferengpässen beim Material und einzelnen Komponenten zu kämpfen, vor allem im ersten Halbjahr 2020. Außerdem klagten viele unserer Kunden über einen Einbruch der Nachfrage, was sich dann auch im Volumen unserer Aufträge widerspiegelte. Trotzdem haben wir das Geschäftsjahr 2020, das bei uns am 30. September endet, erfolgreich abgeschlossen. Neben der enormen Zunahme der Online-Kommunikation und des Online-Shoppings hat die Pandemie noch einen weiteren Trend gebracht: Nichts ist vorhersehbar und berechenbar. Bei Siemens tun wir alles dafür, dass 2021 zu einem Erfolgsjahr wird. Bisher sieht alles gut aus.

Siemens – das ist Technologie in den Bereichen Energie, Healthcare, Mobilität, das ist die Benchmark bei der Digitalisierung und Automatisierung der Industrie und bei der Intelligenten Infrastruktur. Wo sehen Sie das größte Wachstumspotenzial für Siemens Česká republika?

Die Digitalisierung ist längst nicht nur eine Frage der Industrie, die in Tschechien rund 30 Prozent zum BIP beiträgt. Genauso wichtig ist die Digitalisierung auf dem Gebiet der Energie-, Stadt- und Verkehrsinfrastruktur, die zugänglich und verlässlich sein muss, aber auch sicher, für Dienstleistungen und nicht zuletzt für die öffentliche Verwaltung. Im Bereich der Digitalisierung herrscht in Tschechien in vielerlei Hinsicht noch immer Verbesserungsbedarf, sowohl im internationalen als auch rein europäischen Maßstab. Siemens ist bereit, in seinen Zuständigkeitsbereichen unser Land so zu unterstützen, dass es das Potenzial der Digitalisierung voll ausschöpfen kann.

„Puzzle mit dem Namen CO2-Neutralität“


Wird sich die Elektromobilität durchsetzen? Auch in Tschechien, wo der Staat bisher recht wenig zur Förderung einer Ladeinfrastruktur unternimmt?

Die Elektromobilität ist meiner Meinung nach ein wichtiger Teil des Puzzles mit dem Namen CO2-Neutralität. Da ringt man nicht nur bei uns mit der Frage, was zuerst aufgebaut werden sollte – eine große elektrische Flotte oder eine ausreichende Ladeinfrastruktur? Ich meine, an erster Stelle sollte die Infrastruktur stehen. Die leichte Zugänglichkeit von Ladestationen und der Ladekomfort werden für viele der entscheidende Faktor für den Kauf eines Elektroautos sein. Wir sollten jedoch nicht die Frage vergessen, wie die Energie für die Elektromobilität erzeugt wird. Ich glaube, dass die Elektromobilität erst in dem Moment erfolgreich und von Nutzen sein kann, wenn die Energie dafür effizient gewonnen wird – aus dem optimalen Energiemix mit steigendem Anteil erneuerbarer Energien.

„Zu den flexiblen, zuverlässigen und kreativen Industrieländern gehören“


Siemens hat 13 F&E-Zentren in Tschechien (u.a. in Prag, Brünn und Pilsen), wo mehr als 1.000 Mitarbeiter an Automatisierungs- und Digitalisierungslösungen arbeiten. Das Rückgrat der tschechischen Wirtschaft ist die Industrie. Wie wird sich die Industrie in den kommenden zehn Jahren wandeln, welche Vision haben Sie?

Ich bin nicht der Einzige, der spürt, dass die tschechische Industrie heute am Scheideweg steht. Damit sie langfristig und nachhaltig im Wettbewerb bestehen kann, muss ihr Schwerpunkt verlagert werden: von einer Produktion, die sich auf relativ billige Arbeitskräfte stützt, hin zu Aktivitäten mit einem hohen Mehrwert, die auf der Basis von Forschung, Entwicklung, Innovationen und hochentwickelten digitalen Technologien, die die gesamte Wertschöpfungskette abdecken. Ich denke, wenn die tschechischen Industrieunternehmen den richtigen Weg einschlagen, könnten wir in zehn Jahren zwar nicht zu den größten, aber zu den flexiblen, zuverlässigen und kreativen Industrieländern gehören, die technologische Trends mitgestalten können..

„Schlüssel für den langfristigen Wohlstand“


Siemens gehört als einer der #PartnersForSustainability zu den Unterzeichnern des Memorandums „Driving Sustainability“. In diesem Jahr werden enorme Summen aus der europäischen Recovery and Resilience Facility ausgeschüttet. Die tschechische Regierung hat ihren Nationalen Aufbauplan erarbeitet. Wie ambitioniert ist dieser Plan aus Ihrer Sicht, auch mit Blick auf eine nachhaltige und effiziente Transformation der Wirtschaft?

Die Digitalisierung der Industrie und der öffentlichen Verwaltung, eine ökonomisch erschwingliche und umweltfreundliche Energiewirtschaft, ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem mit modernen Medikamenten, Impfstoffen und Methoden, die Kreislaufwirtschaft und allgemein Nachhaltigkeit – das alles sind ganz wichtige Bereiche. Für mich sind sie der Schlüssel, mit dem wir den Wohlstand Tschechiens und den hohen Lebensstandard seiner Bevölkerung langfristig sichern können. Das Thema Nachhaltigkeit ist im vergangenen Jahr in den Hintergrund getreten. Ich glaube aber, dass ihm auch bei der Verwendung der Mittel aus dem Nationalen Aufbauplan eine hohe Priorität für die weitere Entwicklung unseres Landes eingeräumt wird.

Interview: Christian Rühmkorf
Foto: Jaromír Zubák

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