Interview mit dem Chef des Münchner ifo Instituts Prof. Clemens Fuest

Nachhaltigkeit vs. Wachstum!?

„Eine wachsende Wirtschaft ist Ausdruck einer freien Gesellschaft“, sagt ifo-Chef Clemens Fuest.

Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit für das Wirtschaftswachstum? In welchem Verhältnis stehen die beiden Phänomene Nachhaltigkeit und Wachstum zueinander? Sind es Gegensätze oder brauchen sie einander? Und was bedeutet das alles für die Wirtschaftspolitik in Deutschland, aber auch in Tschechien? Darüber haben wir Anfang Juli mit dem Präsidenten des Münchner ifo Instituts Prof. Dr. Clemens Fuest in Dresden gesprochen, einem der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler Deutschlands und Europas.

Professor Fuest, kann man in dieser Zeit der externen Schocks wie Corona und Krieg überhaupt noch von Konjunkturzyklen sprechen?

Wir haben derzeit sicher keine normalen Konjunkturzyklen, sondern eine Art Achterbahn in der Konjunktur. Das heißt, wir hatten den tiefen Abschwung in der Corona Krise. Das war eine historische Krise, viel tiefer als eine normale Konjunkturkrise. Dann hatten wir eine gewisse Erholung, und dann kam die nächste Krise: der russische Angriff auf die Ukraine. Auch das ist eine ungewöhnliche Krise. Sie hat bislang nicht zu einem vergleichbaren wirtschaftlichen Einbruch geführt, aber das sind keine normalen Konjunkturzyklen.

Wo stehen wir gerade im aktuellen Zyklus? Wie tief können wir noch sinken?

Wir werden nicht so tief sinken wie zur Zeit der Coronakrise. Auf der anderen Seite haben wir uns von dieser Krise noch gar nicht wirklich erholt. Das heißt, das Wachstum in Europa und auch weltweit ist seitdem abgebrochen und erholt sich in Europa besonders langsam. Auch deshalb, weil wir hier den Ukraine-Krieg haben, weil wir in besonderer Weise von russischen Energielieferungen abhängig waren und uns daraus lösen müssen. Deshalb ist Europa, insbesondere Mitteleuropa, besonders stark betroffen. Das heißt, wir sind wirtschaftlich auf einem Niveau so etwa wie 2019. Normal wäre es eigentlich gewesen, wenn wir in diesen vier Jahren gewachsen wären. Wir sind aber nicht gewachsen, und viel wird jetzt davon abhängen, wie es an den Energiemärkten weitergeht, wie sich die geopolitischen Spannungen weiterentwickeln. Wenn es da nicht neue Schocks gibt, denke ich, dass die europäische Wirtschaft gerade auch ein gewisses Erholungspotenzial hat. Das ist vielleicht die gute Nachricht.

Keine Technologie, die heute in irgendeinem Industrieland funktioniert und flächendeckend erprobt wäre.“

2019 herrschte ja noch Hochkonjunktur mit beginnendem Abschwung, zumindest der tschechischen Wirtschaft.

Für die deutsche Industrie, die eng mit der tschechischen Industrie verbunden ist, war 2019 in der Tat kein so gutes Jahr mehr. Wir hatten 2018 einen Hochpunkt bei der Industrieproduktion und 2019 dann schon erhebliche Probleme, insbesondere in der Autoindustrie, die ja für beide Länder sehr, sehr wichtig ist. Da hatten wir die Schwierigkeiten mit den Zulassungen wegen des Dieselskandals, wir haben jetzt den Strukturwandel Richtung Elektromobilität, und all das beschäftigt diese Industrie und hat sie zurückgehalten. Trotzdem ist 2019 das Bezugsjahr, weil es eben das letzte Vorkrisenjahr war.

Stichwort Wirtschaftswachstum: Was wird aus diesem Mantra, das doch eigentlich die DNA unseres Wirtschaftsmodells ist?

Wirtschaftswachstum steht im Zentrum unseres Wirtschaftsmodells, aber nicht, weil das eine Größe wäre, die zentral gesteuert ist, sondern weil eine wachsende Wirtschaft eigentlich Ausdruck einer freien Gesellschaft ist. Wachstum entsteht, weil sehr, sehr viele Menschen sich entfalten, Unternehmen gründen, sich ausbilden, wirtschaftlich tätig werden. Und da das technische Wissen mit der Zeit zunimmt, nimmt die Produktivität zu, und die Wirtschaft wächst. Das ist im Prinzip etwas Positives und Ausdruck von Freiheit. Wir müssen nur beachten, dass mit wachsender wirtschaftlicher Aktivität unter Umständen natürliche Ressourcen unter Druck geraten, verbraucht werden, Umwelt zerstört wird. Und darauf achten wir zu wenig, auch wenn wir Wirtschaftswachstum messen. Deshalb gewinnen Nachhaltigkeit und Umweltschutz seit vielen Jahren an Bedeutung. Aber die Probleme im Bereich der natürlichen Ressourcen sind mittlerweile doch so groß – weltweit, aber auch lokal –, dass wir uns stärker darum kümmern müssen. Bestimmte Umweltprobleme hat man ganz gut in den Griff bekommen, wenn wir z. B. an die Verschmutzung der Flüsse in Europa denken und auch der Luft durch Industrie- und Autoabgase. Aber in anderen Bereichen wie Klimaschutz oder Biodiversität haben wir weniger Fortschritte erzielt, und da müssen wir uns mehr anstrengen.

„Eine gewisse Technologie-Skepsis ist charakteristisch für Länder, denen es sehr gut geht.“

Wirtschaftswachstum Ja oder Nein – das ist also keine wirtschaftspolitische Option?

Ich denke, es ist keine realistische wirtschaftspolitische Option, das Wirtschaftswachstum „abzustellen“. Dafür gibt es keine Zustimmung in der Bevölkerung und insbesondere keine Zustimmung in Ländern, die etwas aufzuholen haben. Schutz natürlicher Ressourcen ist eine globale Fragestellung. Und Menschen in Schwellenländern werden es nicht akzeptieren, wenn man ihnen sagt, ihr dürft nicht wachsen.

Lassen Sie uns über einige Teilbereiche sprechen, die alle unter das Thema Herausforderung „Transformation“ fallen, auch mit dem globalen Blick, wie es mit der Konkurrenzfähigkeit unserer Wirtschaft aussieht, wenn wir das umsetzen, was jetzt gerade politisch diskutiert wird. Deutsche Energiepreise gehören zu den höchsten. Dann kommt noch hinzu, dass Deutschland und Tschechien ganz unterschiedliche Wege gehen, auf tschechischer Seite der Atom-Ausbau, auf der deutschen Seite Ausbau der Erneuerbaren. Was kommt da auf uns zu, was macht das mit der internationalen Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen?

Wir haben durch den russischen Angriff auf die Ukraine eine Veränderung in den weltweiten Energiemärkten erlebt. Energie hat sich in Europa verteuert gegenüber den USA. Und in Asien war man vorher schon vor allem im Bereich Gas von LNG abhängig. Das heißt, auch dort verteuert sich die Energie nicht, sie verteuert sich in Europa. Europa lag bei den Energiepreisen, bei den Gaspreisen, etwa zwischen Asien und den USA, und wir nähern uns jetzt mehr Asien an. Das bedeutet, unsere Wettbewerbsfähigkeit in diesem Bereich verschlechtert sich, und damit müssen wir umgehen, und darauf müssen wir uns einstellen.

Gibt es eine Lösung?

Ja, eine Form der Anpassung ist, dass wir andere Energiequellen ausbauen, vor allem erneuerbare Energien. Das Problem ist, dass es keine regelbaren Energien sind. Und hier kommt die Kernenergie ins Spiel. Die Kernenergie kann man national kontrollieren und sich unabhängig machen vom Ausland, und sie stößt kein CO2 aus. Sie hat also gewaltige Vorteile. Sie hat aber auch Nachteile, weil sie mit Risiken einhergeht. Ich würde sagen, es ist ganz wichtig in Europa, dass wir Länder haben, die Kernenergie auf verantwortungsvolle Weise nutzen, die auch die Forschung vorantreiben, denn das ermöglicht uns insgesamt in Europa, die Energieproduktion zu dekarbonisieren. In Deutschland ist der Plan, CO2-Neutralität zu erreichen, indem man zunächst stärker auf Gaskraftwerke setzt und sie dann später auf Wasserstoff umstellt. Das ist ein sehr anspruchsvoller Weg, es ist keine Technologie, die heute in irgendeinem Industrieland funktioniert und flächendeckend erprobt wäre. Ob das klappt, ist unklar. Es soll ja Wasserstoff sein, der auch mit erneuerbaren Energien hergestellt wird, und das heißt für Deutschland, es muss importierter Wasserstoff sein. Es wird also sehr lange dauern, bis dieses neue Energiesystem existiert. Ob es jemals funktioniert, wissen wir nicht. Wer das mit Kernenergie ergänzt, hat bessere Chancen zu dekarbonisieren.

„Unser mangelnder Fortschritt bei der Digitalisierung hat auch mit unserer föderalen Struktur zu tun.“

Sie sagten im Vorgespräch, technologische Entwicklung, Innovation, Digitalisierung sind der Schlüssel, um nachhaltige Lösungen umzusetzen und auch zu exportieren. Nun steht Deutschland im internationalen Vergleich, zumindest was Digitalisierung betrifft, hintan. Sind das nicht eher strukturelle und regulatorische Probleme, die die Digitalisierung in Deutschland bremsen, also z. B. Datenschutz oder auch ethische Fragen, was Innovation und Forschung und Entwicklung betrifft? Und wenn ja, wie müssen wir damit umgehen?

Es gibt in Deutschland seit vielen Jahren eine gewisse Technologie-Skepsis, das ist charakteristisch für Länder, denen es sehr gut geht. Dann erscheint es plötzlich nicht mehr so nötig, neue Technologien zu akzeptieren. Wir stoßen damit in Deutschland aber an Grenzen und sehen eben am Beispiel Digitalisierung, dass doch die Gefahr besteht ins Hintertreffen zu geraten. Deshalb kann man sich nur wünschen, dass es hier mehr Offenheit gibt und dass diese Betonung auf die Risiken neuer Technologien, die wir in Deutschland traditionell sehen, sich vielleicht in ein bisschen auch in Richtung Nutzen von Chancen verlagert. Unser mangelnder Fortschritt bei der Digitalisierung hat auch damit zu tun, dass wir mit unserer föderalen Struktur bei vielen Prozessen nicht vorankommen. Föderalismus hat Vorteile, wenn es darum geht, zu experimentieren, Machtkonzentration zu verhindern, aber bei der Digitalisierung ist es nur sehr eingeschränkt hilfreich.

Sollten wir also das Föderale System in Deutschland aufrechterhalten?

Der Föderalismus hat sehr, sehr große Vorteile, sehr, sehr große Stärken. Viele der erfolgreichsten Länder der Welt sind föderal organisiert. Denken wir mal an die USA. Man kann Föderalismus sehr intelligent nutzen, aber wir sind darin nicht sehr gut in Deutschland. Wir organisieren viele Dinge dezentral, obwohl es Nachteile mit sich bringt. Aber wir sollten unseren Föderalismus auf keinen Fall aufgeben, sondern ihn reformieren. Wir müssen also die Dinge, bei denen sich zeigt, sie klappen auf föderaler Ebene nicht so gut, zentral organisieren. Wir müssen natürlich bedenken, dass die Deutschen ein historisch schwieriges Verhältnis zum Föderalismus haben. Der Föderalismus, den wir heute haben, der ist den Deutschen ja in gewissem Masse vorgegeben worden von den Alliierten nach dem Krieg. Man wollte ja auch unter anderem verhindern, dass die deutsche Regierung allzu agil handeln kann. Es ging um Checks and Balances. Und das hat Vorteile, unter anderem, wenn es darum geht, Unsinn zu verhindern. Es hat aber Nachteile, wenn es darum geht, bestimmte Dinge umzusetzen.

Stichwort Human Resources. In Deutschland und Tschechien herrscht extremer Fachkräftemangel. Und auch dabei gehen beide Länder unterschiedliche Wege. In Deutschland geht es vor allem um Zuwanderung. In Tschechien will man diesen Weg jedenfalls nicht gehen. Der tschechische Professor für künstliche Intelligenz und CTO von Avast, Michal Pěchouček, sagte bereits 2019 im Interview mit der PLUS, durch künstliche Intelligenz gingen weltweit zwei Milliarden Arbeitsplätze verloren. Wie passt das jetzt perspektivisch zusammen, einerseits Fachkräftemangel, andererseits bald eine große Arbeitslosigkeit durch künstliche Intelligenz?

Ach, wissen Sie, es gab Zeiten, da hat fast die gesamte Bevölkerung in der Landwirtschaft gearbeitet. In den letzten 200 Jahren sind 90 % dieser Arbeitsplätze verlorengegangen. Aber es sind jede Menge neuer entstanden. Und so wird es auch mit der künstlichen Intelligenz sein. Die Idee, dass uns die Arbeit durch Automatisierung ausgeht, ist uralt. In den 60er Jahren z.B. gab es noch Kommissionen in den USA, die ein Bürgergeld einführen wollten, weil es hieß, die Leute würden keine Arbeitsplätze mehr haben und müssten versorgt werden. Das Gegenteil ist passiert. Auch in Deutschland ist heute nach Jahrzehnten der Automatisierung und Robotisierung die Zahl der Erwerbstätigen so hoch wie noch nie. Richtig ist, dass sich durch künstliche Intelligenz die Arbeitswelt stark verändern wird und vielleicht die Polarisierung zunehmen wird. Routinearbeiten werden wegfallen und anspruchsvolle Arbeiten wichtiger. Es wird denjenigen gut gehen, die diese anspruchsvollen Arbeiten durchführen können. Es kann also sein, dass die Einkommensspreizung zwischen Hochqualifizierten und weniger Qualifizierten zunimmt. Das würde mich jetzt mehr beschäftigen, als die Idee, dass wir nicht mehr genug Arbeit haben.

„Das Ausbildungsthema wird an Bedeutung gewinnen, lebenslang.“

Automotive ist das Rückgrat der deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen. Da vollzieht sich gerade dieser grundlegende Wandel hin zur Elektromobilität. Der IWF hat in einer Studie Anfang des Jahres Tschechien ein ziemlich schlechtes Zeugnis ausgestellt mit Blick auf HR-Qualifikationen, um diesen Wandel erfolgreich umzusetzen. Wie kann man damit umgehen, damit dieser Wandel durch ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte begleitet werden kann?

Elektromobilität ist auf dem Vormarsch. Das bedeutet, dass insbesondere Zulieferer, die im Bereich der Verbrenner tätig sind, einen erheblichen Teil ihres Geschäfts verlieren werden. Und die Menschen, die dort arbeiten, müssen umgeschult werden – eine große Aufgabe. Insgesamt wird sich der Strukturwandel in der Wirtschaft beschleunigen. Deshalb wird das Thema lebenslanges Lernen, eine Ausbildung, die auf diese Welt vorbereitet, immer wichtiger. Also eine Verschiebung weg von sehr spezialisierten Tätigkeiten hin zu breiteren Kompetenzen. Das Ausbildungsthema wird an Bedeutung gewinnen, lebenslang.

„Es ist ganz entscheidend, dass wir unseren EU-Binnenmarkt weiterentwickeln.“

Schauen wir auf das Thema Nachhaltigkeit, neue Geschäftsmodelle, den Weg, den Europa, Deutschland allen voran, seit einigen Jahren eingeschlagen hat. Und schauen wir gleichzeitig auf die USA, die mit quasi protektionistischen Maßnahmen wie dem Inflation Reduction Act versuchen, Unternehmen anzuwerben und zu Investitionen in den USA zu bringen. Dazu ein relativ „regelfrei“ funktionierendes China. Wo endet das für ein stark regulierendes Europa? Das klingt nicht nach einer guten Perspektive…

Das europäische Geschäftsmodell ist ja, international stark integrierte Industrien zu haben, die so funktionieren, dass man sich sehr stark auf Bereiche konzentriert, in denen man komparative Vorteile hat, und sehr stark Dinge outsourced, bei den man nicht so gut ist. Und dieses Modell wird natürlich in Frage gestellt, wenn die Weltwirtschaft protektionistischer wird. Was die USA angeht, muss man verstehen, dass der Inflation Reduktion Act auch starke innenpolitische Gründe hat. Es sind viele Dinge dabei, die wir nicht nachmachen sollten. Für Biden ist es in der Konkurrenz mit den Republikanern einfach wichtig, Industriearbeitsplätze zu schaffen. Ich fürchte, diese Arbeitsplätze werden nicht sehr nachhaltig sein und wahrscheinlich wieder wegfallen, wenn die Subventionen aufhören. Denn die USA haben wahrscheinlich keine komparativen Vorteile in der Standard-Batterieproduktion. Diese komparativen Vorteile liegen eher in Schwellenländern. Aber wir müssen uns auf eine Welt mit mehr Protektionismus einstellen.

Und China?

Wenn es schwieriger wird, mit China Handel zu treiben, spricht umso mehr dafür, neue Märkte zu öffnen. Wir reden ja über MERCOSUR und Freihandelsabkommen mit Lateinamerika, mit anderen asiatischen Staaten, wie der Freihandel mit Japan. Und das ist der richtige Weg. Europa hat es auch in vergangenen Krisen geschafft – und ich glaube, das gilt auch für die deutsche und die tschechische Wirtschaft – relativ schnell neue Märkte zu erschließen. Aber ich sehe mit Sorge, dass teilweise sehr viel Geld für Reshoring ausgegeben wird. Wir haben in Deutschland sehr, sehr hohe Subventionen für einzelne Industrieprojekte, und das beeinträchtigt den Wohlstand. Das kann man mal machen, wenn man denkt, man muss sich nun unbedingt gegen Lieferprobleme absichern. Aber wir können solche Dinge, wie wir sie jetzt im Bereich der Halbleiterindustrie sehen, nicht unendlich wiederholen, das kann man einfach nicht bezahlen.

Ich sehe mit Sorge, dass teilweise sehr viel Geld für Reshoring ausgegeben wird.

Was kann in dieser Situation – darüber denken wir natürlich in der AHK Tschechien nach – auf bilateraler Ebene getan werden, um die nachhaltige Transformation zu schaffen, konkret auch im Bereich Automotiv, der ja so wichtig ist?

Innerhalb Europas ist ganz entscheidend, dass wir unseren Binnenmarkt weiterentwickeln. Wir sind weit davon entfernt, einen echten Binnenmarkt zu haben. Das hat die Folge, dass neue Unternehmen, neue Geschäftsmodelle, sich nicht richtig entwickeln. Dabei sind neue Geschäftsmodelle wichtig. Wir müssen das Potential des europäischen Binnenmarktes nutzen. Die Autoindustrie ist da ein sehr gutes Beispiel. Es gibt nach wie vor sehr, sehr viel Kompetenz in der Autoindustrie in Europa, die muss sich aber weiterentwickeln, um in dieser neuen Welt der Elektromobilität bestehen zu können. Wir haben derzeit chinesische Anbieter, wir haben Tesla, die in die Märkte drängen. Die europäische Industrie ist schon in der Lage diesem Wettbewerb standzuhalten. Aber dafür brauchen wir diese Marktintegration in Europa: Grenzen im Binnenmarkt weiter abbauen, in den Kapitalmärkten, in den Venture-Capital-Märkten. Wir sind weiter davon entfernt, einen Binnenmarkt zu haben, der z.B. mit den USA vergleichbar wäre.

Planungssicherheit existiert nicht mehr wirklich. Sie ist aber nun mal das dringend notwendig, um ein Unternehmen zu führen. Was brauchen also die Unternehmen jetzt am meisten, um erfolgreich zu bleiben?

Unsicherheit ist unangenehm, das gehört aber zum Unternehmertum. Aber die Politik sollte nicht leichtsinnig diese Unsicherheit noch erhöhen, sondern stabile Rahmenbedingungen bieten. Das sollte allerdings nicht die Form annehmen, dass die Allgemeinheit den Unternehmen Risiken abnimmt – die gehören schon in die Unternehmen. Deshalb bin ich etwas skeptisch, was das Thema Industriestrom angeht. Wir müssen die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln verbessern. Und da gibt es eigentlich zwei Modelle: Das eine besteht darin, stark zu regulieren, hohe Steuern zu erheben und gleichzeitig Einzelprojekte zu fördern. Das macht die Politik gerne, weil sie damit steuern kann. Das ist aber sehr gefährlich. Die Politik weiß nicht – und selbst die Unternehmen wissen nicht immer – was Zukunftsmärkte sind. So etwas muss sich am Markt entwickeln. Statt sehr interventionistisch zu steuern, ist deshalb die Aufgabe der Politik, die allgemeinen Bedingungen zu verbessern, das heißt bei Steuern und Abgaben entlasten, bei Regulierung wirklich prüfen, ob sie notwendig ist, Planungsverfahren beschleunigen, damit Unternehmen sich entwickeln können. Und dann wird es sicherlich Unternehmen geben, die wenig erfolgreich sind. Es wird aber auch überraschende Erfolge geben. Und das ist das Wirtschaftsleben, das halte ich für vielversprechender als jetzt einzelne Branchen politisch ausgewählt zu fördern.

Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest

  • *1968 in Münster
  • seit 2016 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München
  • Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Center for Economic Studies (CES)
  • Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen sowie weiteren renommierten Beiräten
  • gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands und gehört laut IDEAS/RePEc weltweit zu den Top-10 % der Ökonomen
  • 2023 wurde ihm der Bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst verliehen, die höchste Auszeichnung des Freistaats Bayern

1949 gegründet gehört das ifo Institut zu den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten in Europa.

Das ifo Institut gestaltet durch seine monatlichen Datenerhebungen (Konjunkturtest), seine wissenschaftliche Forschung und Analysen sowie seine Beratung die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland und in Europa mit. Die Forschungsergebnisse bieten Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft eine Grundlage für sachorientierte Entscheidungen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse werden so aufbereitet, dass Medien und die Öffentlichkeit das aktuelle ökonomische und politische Geschehen verstehen und einordnen können.
Das ifo Institut hat seinen Hauptsitz in München, eine Niederlassung Dresden, neun Forschungszentren und eine Forschungsgruppe Steuer- und Finanzpolitik. In seinem Kuratorium finden sich Vertreter von Wirtschaft, Verbänden, Gewerkschaften, Verwaltungen und Wissenschaft.

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Interview: Christian Rühmkorf
Foto: ifo Institut/Enno Kapitza, Alena Horáčková

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