Interview mit Nationalbank-Gouverneur Jiří Rusnok

„Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert“

Er kennt die tschechische Wirtschaft von allen Seiten, war Minister für Finanzen, Industrie und Handel sowie Premierminister. Auch in der Bankenwelt machte er Karriere – erst in der Privatwirtschaft, dann ab Frühjahr 2016 als Hüter der tschechischen Krone. Im aktuellen Kampf gegen die rasante Inflation richten sich viele Augen auf den Gouverneur der Tschechischen Nationalbank (ČNB). Sein Rezept, die Leitzinsen deutlich zu erhöhen, schmeckt nicht jedem – für die Unternehmen macht es Investitionen zumeist teurer. Wir haben mit Jiří Rusnok über Kritik an seiner Währungspolitik, die grüne Transformation und die Unabhängigkeit der ČNB gesprochen.

Wie hat sich Ihre Arbeit als Hüter der Tschechischen Krone durch das Coronavirus verändert? Hat sie sich überhaupt verändert?

Unsere Aufgabe und unser Auftrag – die Preisstabilität im Land zu wahren – hat sich nicht geändert. Das ist gesetzlich geregelt. Andererseits hat sich die gesellschaftliche Entwicklung verändert, insbesondere die wirtschaftliche, die uns in erster Linie interessiert. Covid war ein ganz besonderer Schock für die Wirtschaft. Obwohl wir Krisenerfahrung im Finanzsektor haben, hat noch keiner von uns einen externen Schock, also von außerhalb der Wirtschaft erlebt.

Das Außergewöhnliche ist, dass es sich hauptsächlich um einen Schock auf der Angebotsseite handelt, einen sog. Supply side shock. Aufgrund des einfachen Marktgesetzes von Angebot und Nachfrage führt er zu steigenden Preisen. Und in dieser Situation befinden wir uns. Das war zu Pandemiebeginn wegen der Zeitverzögerung nicht erkennbar. Jetzt kommen zum aktuellen Preiswachstum noch einige andere Trends hinzu, die den Anstieg verstärken – in Europa ist es der Druck zur Dekarbonisierung, die Energiewende und der Technologiewandel in der Automobilindustrie. Das alles trägt dazu bei. Am bedeutendsten sind sicher die wirtschaftlichen Auswirkungen und der für uns beispiellose Anstieg des Preisniveaus.

Ihre Reaktion war bemerkenswert, am 4. November haben Sie den Zinssatz wegen der hohen Inflation um ganze 1,25 Prozentpunkte angehoben. Werfen wir einen Blick auf die Folgen. Noch-Premier Babiš behauptete in den Medien, dass Sie die tschechische Wirtschaft zerstören würden. Wie erklären Sie sich eine so scharfe Kritik?

Ich denke, er sucht einfach einen neuen Feind, denn gerade ist so recht keiner zur Hand. Aber das ist nicht wichtig, denn wir sind unabhängig von der Politik. Wir wissen, was wir tun, und wir können nicht warten, bis das Preiswachstum von allein wieder fällt. Der Premierminister geht von der Hypothese aus, dass die Inflation importiert ist, dass sie sich unserer Kontrolle entzieht. Das stimmt nur zur Hälfte, etwa 50% der aktuellen Inflation sind hausgemacht.

„Die Löhne wachsen schneller als die Arbeitsproduktivität.

Schauen wir uns die 50% an, die Sie beeinflussen möchten. ČNB-Vizegouverneur Marek Mora sagte kürzlich, dass auch die Haushaltspolitik der scheidenden Regierung zur Inflation beiträgt. Was sind die anderen Faktoren?

Der wichtigste Faktor sind langfristig schnell wachsende Löhne, die schneller wachsen als die Arbeitsproduktivität. Es ist das Ergebnis eines sehr angespannten Arbeitsmarktes, wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit in Europa. Die Löhne stiegen nominal um 5-8% und real um 2-5%. Eine Wachstumsrate, die in Westeuropa ihresgleichen sucht. Und das in einer Phase, in der die tschechische Wirtschaft zwar gewachsen ist, aber nicht signifikant. Die Konvergenz, die Angleichung der tschechischen Wirtschaftsleistung an die am weitesten entwickelten EU-Länder , ist schon 2018 de facto zum Stillstand gekommen.

Natürlich hat auch die extrem expansive Staatsfinanzpolitik in den letzten beiden Jahren zur Inflation beigetragen, das ist unbestritten. Die Höhe der tschechischen Staatsverschuldung ist unproblematisch, sie ist immer noch relativ niedrig, problematisch ist das Tempo ihres Anstiegs. Wenn wir das Tempo um 7-8 % des BIP pro Jahr erhöhen, ist das eine der schnellsten Verschuldungen in Europa. Dies trägt sicherlich auch zur Inflation in der tschechischen Wirtschaft bei.

Der dritte wichtige Faktor spiegelt sich in unserer Inflationsmessung wider. Wir haben eine andere Messung als die Eurozone. Die Immobilienpreise in Tschechien wachsen langfristig schneller als in den meisten Ländern Europas. In unserem Index der Verbraucherpreis haben wir sogenannte kalkulatorische Mieten, also eine Komponente, die die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum beinhaltet. Ganze 80 % der tschechischen Bevölkerung leben in der eigenen Immobilie. Das erhöht natürlich den Inflationsdruck.

Jiří Rusnok im Gespräch mit Christian Rühmkorf und Bernhard Bauer

Die Zinserhöhung ist für Unternehmen ein ambivalenter Schritt. Einerseits steigen die Zinsen für Investitionskredite, gleichzeitig spüren sie seit vielen Jahren den Fachkräftemangel, den Sie als eine der Inflationsursachen genannt haben. Kann denn der angespannte Arbeitsmarkt nicht anders beeinflusst werden als durch eine Verlangsamung der Konjunktur?

Als ČNB wollen wir nicht primär den Arbeitsmarkt beeinflussen, aber unsere Entscheidungen haben natürlich sekundär Auswirkungen auf die Realwirtschaft und den Arbeitsmarkt. Diese Situation kann nicht mit monetären Instrumenten gelöst werden, sondern durch zunehmende Automatisierung und Robotisierung, durch den technologischen Fortschritts. Denn auch in etwa 10, 20 Jahren werden wir hier nicht mehr Fachkräfte haben. Im Gegenteil, es wird noch schlimmer, da die Gesellschaft altert. Wir haben eine der am schnellsten alternden Gesellschaften in Europa. Kurzfristig und nur teilweise könnte ein liberalerer Ansatz für den Import von Arbeitskräften aus dem Ausland eine Lösung sein. Langfristig geht es um eine bessere Abstimmung zwischen dem, was das Bildungssystem hervorbringt, und dem, was der Arbeitsmarkt braucht. Da gibt es große Mängel. Und dann in Technologie investieren, Arbeitskräfte sparen. Tschechien hat nicht die demografische Kapazität für einen so großen Industriesektor wie heute. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.

Die Maßnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Tschechischen Nationalbank sind sehr widersprüchlich. Wir hören von der EZB, dass ihre Nullzinspolitik vielleicht noch zwei Jahre andauern wird. Wie nehmen Sie das Verhalten der EZB in Bezug auf Ihre Unabhängigkeit wahr?

Wir sind nicht Teil der Eurozone, sind für uns selbst verantwortlich und müssen unsere eigenen Bedingungen berücksichtigen. Wir haben ein Inflationsziel von 2 %, aber die aktuelle Inflation ist um ein Vielfaches höher. Wenn wir feststellen, dass die Preisstabilität ernsthaft bedroht ist, müssen wir reagieren, um währungspolitisch unser Ziel zu erreichen. Wir können nicht so tun, als ob nichts passiert , wenn wir wissen, dass die Ursachen größtenteils inländische Faktoren sind.

„Wenn Europa ein Problem hat, werden wir es auch haben.“

Und der Ansatz der EZB?

Das ist verständlich, dass die EZB derzeit einen anderen Ansatz verfolgt. Erstens: Wir hatten schon vor Covid eine höhere Inflation. Nicht so hoch wie jetzt, aber schon damals musste die Geldpolitik etwas gestrafft werden, was bei der EZB nicht der Fall ist. Sie lag viele Jahre weit unter dem Ziel. Zweitens muss die EZB die Geldpolitik für 19 Länder festlegen. Dies ist sehr schwierig, da alle Länder unterschiedliche Inflationsraten und unterschiedliche Inflationsfaktoren haben. Derzeit liegt die Inflation in einigen baltischen Ländern bei etwa 8%, in der Slowakei ist sie ähnlich wie in Tschechien, ähnlich wie in Deutschland. Dann gibt es Griechenland, Italien, wo die Inflation noch relativ niedrig ist. Da ist es natürlich schwierig, eine geldpolitische Lösung, die richtige Zahl, zu finden. Meiner Meinung nach fast unmöglich. Richtig ist auch, dass in keinem Land der Eurozone der Arbeitsmarkt so angespannt ist wie in Tschechien. Die Lage ist in vielen Ländern ganz anders, zum Beispiel in den südeuropäischen Ländern. Die EZB ist meiner Ansicht nach in der fiskalischen Dominanz gefangen, wie das technisch genannt wird: Eine Reihe von Euro-Ländern ist hoch verschuldet, und jeder Anstieg der Kosten für die Finanzierung ihrer Schulden ist eine dramatische makroökonomische Herausforderung für sie. Auch diesen Umstand muss man berücksichtigen.

Ich habe auch wegen der Wettbewerbsfähigkeit tschechischer Unternehmen im europäischen Binnenmarkt gefragt, insbesondere im Euroraum. Immerhin gehen 80 % der tschechischen Exporte in die Europäische Union.

Ja, zum Teil ist das in ihrer Lage ein ungünstiger Umstand. Wenn sie einen höheren Finanzierungsgrad durch Kredite tschechischer Banken in Kronen haben, werden sie die Kostensteigerung spüren. Unternehmer haben heute jedoch eine Alternative, die sie nutzen – Firmenkredite in Euro. Für Exportunternehmen ist dies auch als natürliche Absicherung gegen Wechselkursrisiken sinnvoll. Dort wird der kurzfristige Nachteil, von dem Sie sprechen, deutlich verringert.

Natürlich liegt uns das Schicksal der tschechischen Wirtschaft sehr am Herzen. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass ohne das gute Funktionieren der tschechischen Wirtschaft auf Dauer weder Preis- noch Finanzstabilität erreichbar sind. Die Preisstabilität wird dadurch geschaffen, dass die Zentralbank die sogenannten Inflationserwartungen nicht über das sie bedrohende Niveau steigen lässt. Heute wissen wir, dass der Aufwärtsdruck auf die Inflationserwartungen enorm ist. Deshalb müssen wir so rasant eingreifen. Ohne Preisstabilität funktionieren das Investitionsklima, der Arbeitsmarkt und die Lohnfindung nicht in einer gesunden Weise. Das sind alles Voraussetzungen für langfristigen Wohlstand hier. Natürlich nicht die einzigen, aber die anderen haben nicht wir im Portfolio.

Unternehmen müssen digitalisieren, automatisieren und mit einem leer gefegten Arbeitsmarkt leben. Lieferketten funktionieren schlecht, Energiepreise steigen. Gleichzeitig kommt die grüne Transformation. Bleibt den Unternehmen noch Geld für die notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit?

Ich verstehe natürlich die Herausforderungen, von denen Sie sprechen. Ich bin überzeugt, dass tschechische Unternehmen damit umgehen können. Das betrifft ja nicht nur sie, sondern alle Unternehmen in Europa, mit denen sie konkurrieren. Es ist ein Wettbewerb, in dem sie täglich und meist erfolgreich funktionieren. Es wird sicher nicht einfach, denn die von Ihnen genannten Herausforderungen wirken zeitgleich, und die Umstände werden nicht einfacher. Gleichzeitig birgt jede Krise Chancen. Ich mache mir also keine Sorgen, dass die Unternehmen in der Tschechischen Republik das nicht schaffen. Die Grundlagen der tschechischen Wirtschaft sind gesund. Wir sind grundsätzlich abhängig von dem, was in Europa passiert. Wir sind ein kleines, offenes, exportorientiertes Industrieland. Wenn Europa auf Dauer Probleme hat, werden wir sie auch haben . Da spielt es keine Rolle, ob wir in der Eurozone sind oder nicht. Wenn Europa es schafft, schaffen das auch tschechische Unternehmen.

„Tschechien hat nicht die demografische Kapazität.“

Europapolitik, Green Deal, Fit for 55 – sehen Sie die Transformation als Teil des Problems oder als langfristige Lösung der Situation?

Wir können Klimaprobleme nicht ignorieren. Wir müssen die Umwelt nach und nach immer weniger belasten, das ist ein klares Gebot. Eine andere Sache ist, ob unsere „Roadmap“ in allen Zusammenhängen gut durchdacht ist , ob sie den Belastungstest bestanden hat. Denn sie wird Spannung erzeugen. Ich bin der Meinung, dass nicht alles ausreichend durchdacht ist. Ich denke, dass es der richtige Weg ist, er muss aber konkretisiert werden. Die Kritik daran darf kein ideologisches Tabu sein, das wäre der Weg in die Hölle.

Gleichzeitig müssen wir realistisch sein, schauen wir uns die Karte an. Europa ist so eine Art Halbinsel Eurasiens. Allein werden wir die Welt nicht retten. Ja, lasst uns alle auf diesem Planeten dazu bringen, sie zu retten. Retten werden wir die Welt nicht, indem wir uns allein opfern. Das wäre irrational.

Kommen wir kurz zum Euro. Jedes Jahr im Frühjahr führen wir zusammen mit 15 weiteren mittel- und osteuropäischen Ländern eine Konjunkturumfrage durch. 2017 wollten 48 % unserer Mitgliedsunternehmen den Euro einführen, jetzt sind es schon 68 %. Der Euro ist auch zu einem Gutteil ein politisches Projekt. Ist es wünschenswert, ihn in Tschechien einzuführen?

Ich habe immer gesagt, dass wir langfristig die gleiche Währung wie Deutschland haben müssen. Deutschland hat derzeit den Euro. Das Problem ist, dass der Euro als politisches Projekt, wie Sie es richtig beschrieben haben, ein unvollendetes Projekt ist. Ich befürchte, dass seine Vollendung in Europa noch viel Leiden und Schmerz mit sich bringt. Oder das Projekt Euro muss auch nicht von ewiger Dauer sein. Da ist natürlich die Frage, ob wir uns in ein unvollendetes Projekt stürzen sollten, wenn wir wissen, dass es noch einen großen Umbau geben wird. Ob wir in ein unfertiges Haus einziehen sollten.

Die neue Regierung will einführen, dass Unternehmer ihre Konten in Euro führen können…

Viele internationale Unternehmen tun dies und führen bereits heute zwei Konten – in Euro und Kronen. Das ist eine buchhalterische Frage. Ich habe gehört, dass es die Idee gibt, Unternehmen könnten auch Steuern in Euro zahlen. Ich halte das für Unsinn, man kann das Währungssystem in einem Land mit eigener Währung nicht so aufteilen. Ich frage mich, wie sich der Staat dann gegen Wechselkursrisiken absichern soll, ob er auch Leistungen in Euro zahlen würde.

Sie haben mehrere Ministerämter bekleidet, waren auch Premier, also in der staatlichen Sphäre, und Sie waren Top-Manager im privaten Bankensektor. Als Gouverneur sind Sie nun der Hüter der tschechischen Krone. War es schwierig für Sie, die Seiten zu wechseln, die teilweise immer noch gegeneinander kämpfen? Schätzen Sie diese Erfahrung als Gouverneur heute noch?

Sicherlich stärkt einen jede Erfahrung und gibt einem einen Überblick. Ich glaube, es hat mir sehr geholfen, auch in dieser Rolle. Ich bin ein Mensch, der es gewohnt ist, seine Rollen zu erfüllen. Ich halte es für einen Vorteil, wenn man eine breitere Erfahrung hat, weil man dann das Umfeld dessen, worüber man entscheidet, viel detaillierter, plastischer sehen und sich darin besser orientieren kann.

„Der Euro ist ein unvollendetes Projekt.“

In einem Jahr und ein paar Monaten werden wir Präsidentschaftswahlen haben. Der Präsident sucht den ČNB-Gouverneur aus und ernennt ihn. Dies ist eine Regel aus einer Zeit, als es noch keine Direktwahl des Präsidenten gab. War es gut, eine Direktwahl des Präsidenten einzuführen?

Nein, es passt nicht in unser Verfassungssystem. Das basiert auf parlamentarischer Demokratie und souveräner Macht, die aus den Parlamentswahlen hervorgegangen und an das Parlament delegiert ist. Das entscheidet über alle wesentlichen Dinge, in unserem System ist die Direktwahl des Präsidenten ein fremdes Element. Aber daran kann man nichts mehr ändern.

Machen Sie sich Sorgen um die zukünftige Unabhängigkeit der ČNB? Denn auch Ihr Kritiker, Premier Babiš, denkt darüber nach, für das Präsidentenamt zu kandidieren.

Nein, obwohl wir diese monarchische Art haben, die Mitglieder des ČNB-Bankrates zu ernennen und wir bisher drei sehr unterschiedliche Präsidenten hatten. Sie alle haben Mitglieder des ČNB-Bankrates und Gouverneure ernannt, und es gab nie ein größeres Problem. Diese scheinbar absolutistische Ernennung hat den Vorteil, dass der Präsident die Mitglieder des ČNB-Bankrates allein ernennt und er sich bei niemandem herausreden kann. Darüber hinaus haben sie ein langes Mandat, und ihr Handeln wirkt sich noch während der Amtsperiode des Präsidenten aus, der sie ernannt hat. Nein, ich mache mir keine Sorgen.

Das Interview wurde am 15. 11. 2021 geführt.

Interview: Bernhard Bauer, Christian Rühmkorf

Fotos: Jaromír Zubák



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