Von der Kohlemine zum Data-Mining
Ruß und Rost waren bislang die Markenzeichen von Ostrava. Doch Tschechiens östlichste Großstadt erfindet sich von Grund auf neu. Heute setzt die Region Mährisch-Schlesien auf Zukunftsbranchen, die Investoren kommen nun aus der Automobilindustrie und dem IT-Sektor. An das Kohle- und Stahlzeitalter erinnern die Ruinen der Fördertürme und Hochöfen – und die zuweilen dicke Luft über der Stadt. Und nicht alle Bergleute finden in den neuen Branchen einen Job.
Ostrava kämpft bis heute mit dem industriellen Erbe einer Montanregion. Im Habsburger Reich bekam das mährisch-schlesische Revier wenig schmeichelhafte Bezeichnungen wie „Wiener Kohlebahnhof“ oder „Schwarz-Kalifornien“. Mit den „Wittkowitzer Eisenwerken“ stand am Ufer der Oder der größte Hüttenbetrieb der Donaumonarchie. Später setzte die Tonnenideologie der Kommunisten auf extensive Ausbeutung der Kohlegruben und stete Steigerung der Stahlproduktion – ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen. Nach dem Start in die Marktwirtschaft wurden die meisten Gruben geschlossen, in Mährisch-Schlesien grassierte die Massenarbeitslosigkeit.
Vor diesem Hintergrund erscheint es fast als Wunder, dass Ostrava heute zu Tschechiens attraktivsten Investitionsstandorten gehört. Die EU-Kommission sagt Mährisch-Schlesien eine goldene Zukunft voraus. In der Studie European Territorial Trends hat sie die Entwicklungsperspektiven für Europas Regionen untersucht. Das Ergebnis: Nur zehn Wirtschaftsräume schaffen bis 2060 ein Wachstum von mehr als zwei Prozent pro Jahr. Mährisch-Schlesien ist einer davon.
Erfolgreiche Strategie der Investorenanwerbung
Erst 2018 heimste Ostrava wieder einige renommierte Preise ein. Beim Ranking „fDi European Cities and Regions of the Future“ landete Ostrava unter Europas mittelgroßen Städten (bis 750.000 Einwohner) auf Platz 6 in der Kategorie „FDI Strategy“. Das Gremium der Financial Times prämiert damit die erfolgreichsten Strategien zur Anwerbung ausländischer Direktinvestitionen. Tschechiens einstiges Kohlerevier liegt vor Bilbao, Porto und – noch wichtiger – vor Brünn.
Der Konkurrent aus Südmähren wurde auch beim wichtigsten nationalen Ranking „Město pro byznys“ (Stadt mit dem besten Geschäftsumfeld) auf die Plätze verwiesen. Hier erreichte Ostrava 2018 den Spitzenplatz. Die Jury lobte den informativen Webauftritt, die kundenfreundlichen Öffnungszeiten der Behörden, die schnelle Reaktionszeit der Verwaltung auf konkrete Firmenanfragen und den hohen Anteil kleiner und mittelständischer Unternehmen in der Stadt.
Wie gut die Startup-Szene funktioniert, lässt sich in den Gründerzentren beobachten. Im Mährisch-Schlesischen Innovationszentrum MSIC sind derzeit knapp 70 Unternehmen untergekommen. Träger sind drei Hochschulen, die Stadt Ostrava und die Regionalverwaltung. Sie wollen jungen Gründern ein innovatives Umfeld bieten, um ihre Geschäftsideen zu verwirklichen. Nur ein paar hundert Meter weiter steht der Business Inkubator der Technischen Universität VŠB. Er ist voll ausgebucht, berichtet Direktorin Kateřina Honajzrová. Aktuell haben dort 25 Firmen ein Domizil gefunden, vor allem aus dem IT-Sektor. Einer der bekanntesten Mieter ist der Softwareentwickler Profiq, der sogar Kunden im Silicon Valley mit Programmentwicklungen und Testverfahren aus Ostrava versorgt.
„Die Firmen bekommen bei uns Büros, können die Konferenzräume nutzen und werden zur Geschäftsentwicklung, zu Finanzierungen oder zum Patentschutz beraten“, erklärt Inkubator-Chefin Honajzrová. Der Service ist allerdings nicht gratis. Die Büromiete kostet etwa zehn Euro je Quadratmeter und Monat, ein Beratungsgespräch 24 Euro je Stunde. „Das sind Marktpreise. Doch dafür haben die Firmen ihren Sitz auf dem Unicampus und bekommen so direkten Kontakt zu den Fakultäten und Studenten.“
Karbonbauteile für deutsche Rennwagen
Das ist angesichts des Fachkräftemangels in Tschechien Gold wert. Auch der deutsche Autozulieferer Brebeck setzt auf die Kooperation mit der Hochschule. Das Unternehmen produziert in Šenov bei Ostrava Leichtbauteile für die Motorsportindustrie, bevorzugt aus Karbon. „Einzelne Arbeitsaufträge wie Ultraschallprüfungen vergeben wir an die Universität“, sagt Firmengründer Thomas Brebeck. Außerdem unterstützt er die Teilnahme an der Formula SAE, einem internationalen Konstruktionswettbewerb, bei dem Studententeams aus aller Welt in selbst gebauten Rennwagen gegeneinander antreten. „Auf diese Weise begeistern wir die jungen Leute für Karbonwerkstoffe und gewinnen vielleicht neue Talente für unseren Betrieb“, so Brebeck.
Sein Unternehmen war 2017 zur besten Firma im Bezirk Mährisch-Schlesien gekürt worden. Der gelernte Kunststoffformgeber aus Niederbayern hatte den Betrieb 2011 mit zwei Mitarbeitern gegründet. Die Standortwahl fiel auf Ostrava, weil seine Frau aus der Region stammt und ihm ein großes Fabrikgelände angeboten wurde. Inzwischen hat Brebeck Composite 70 Beschäftigte und erzielt Jahresumsätze von über fünf Millionen Euro. Namhafte Kunden wie die Rennsportteams von Audi, BMW oder Porsche lassen in Senov Leichtbauteile fertigen.
Von den Standortbedingungen in der Region schwärmt Firmenchef Brebeck. „Die Leute hier wollen und können richtig gut arbeiten, vor allem die jüngeren.“ Die Kostenstruktur sei sehr günstig, Löhne und Strom deutlich billiger als in Deutschland. „Auch der Freizeitwert ist enorm“, meint der Geschäftsführer. Ostrava habe kulturell unheimlich viel zu bieten, und ringsherum gebe es viel Natur. „In einer halben Stunde bin ich in den Beskiden oder im Altvatergebirge, die mich an meine bayerische Heimat erinnern.“
Dennoch gibt es einige Wermutstropfen. So passiert es hin und wieder, dass der örtliche Stromversorger die Verbindung kappt, was bei der energieintensiven Produktion zum Problem werden kann. „Außerdem ist es bei bestimmten Positionen sehr schwer, die richtigen Fachkräfte zu finden, zum Beispiel Qualitätsmanager.“ Auch die Infrastruktur der Region sei nicht optimal, so Brebeck. Das Rohmaterial für die Produktion kommt zum Teil aus Italien und muss in speziellen Kühltransportern angeliefert werden. Die langen Wege verursachen hohe Kosten. „Eine Katastrophe ist die Anbindung des Flughafens Ostrava-Mošnov. Es gibt keine Direktflüge nach Deutschland“, ärgert sich der Unternehmer.
Konkurrenz durch das polnische Katowice
Im Rathaus von Ostrava ist das Problem bekannt. Doch Václav Palička, Leiter der Abteilung für strategische Entwicklung, verweist auf den Eigentümer des Airports (Bezirksverwaltung Mährisch-Schlesien) und auf die starke Konkurrenz durch das polnische Katowice. Der dortige Airport ist in gut einer Stunde von Ostrava aus erreicht und bietet Linienflüge zu sieben deutschen Städten. „Trotzdem versuchen wir weiter, eine Low-cost-Airline in unsere Region zu holen“, verspricht Palička.
Auf anderen Gebieten ist die Stadt bereits weiter. Die Gewerbegebiete sind voll, neue Investoren drängen in die Region. „Früher wollten wir so viele Arbeitsplätze wie möglich schaffen, um den Entlassenen der Schwerindustrie neue Perspektiven zu bieten“, erzählt Palička. „Heute suchen wir uns die Investoren aus und achten darauf, dass möglichst viel Wertschöpfung entsteht.“ Ein chinesisches Unternehmen, das eine Reifenfabrik in der Region plante, wurde sogar abgelehnt.
„Investitionsanreize sind längst nicht mehr der wichtigste Faktor, um Investoren anzuwerben“, meint auch Tomáš Kolárik, Direktor der regionalen Entwicklungsagentur MSID. Sie wurde gegründet, um Mährisch-Schlesien ein positives Image zu verpassen, große Projekte anzuschieben sowie Innovationen und Investoren in die Region zu holen. „Die entscheidenden Faktoren sind nun hochqualifizierte Arbeitskräfte, die Verfügbarkeit von Gebäuden und Grundstücken, Geschäftsmöglichkeiten und eine gute Infrastruktur.“ Diese Vorteile der Region stelle die MSID bei der Investorenanwerbung in den Vordergrund, so Kolárik.
Ein Schlüssel zum wirtschaftlichen Aufschwung von Ostrava war die Einrichtung von strategischen Industriezonen. Die erste entstand ab 2004 im Stadtteil Hrabova. Heute siedeln dort auf rund einhundert Hektar bekannte Unternehmen wie Brembo, SungWoo, Henniges Automotive, Rossignol oder ABB Robotics.
Am Flughafen Ostrava-Mošnov entsteht ein multimodales Logistikzentrum mit 240.000 Quadratmeter Lager- und Produktionsfläche. Seit Anfang dieses Jahres läuft die zweite Bauphase für einen Eisenbahn-Frachtknoten. „Dort wollen wir die Verkehrsströme aus Straßen-, Eisenbahn- und Lufttransporten kombinieren“, sagt Ostravas Entwicklungschef Palička.
Logistiksektor ist eine der Wachstumsbranchen
Der Transport- und Logistiksektor gehört zu den Wachstumsbranchen in Mährisch-Schlesien. Das liegt auch am Boom der Fahrzeugindustrie in der Region. Mit Hyundai im Gewerbegebiet Nošovice, Kia im nahe gelegenen Zilina (Slowakei) sowie Opel im polnischen Gleiwitz gibt es im Umkreis von hundert Kilometern gleich drei große Autofabriken.
Das lockt Zulieferer in den Großraum Ostrava. „Unser großer Vorteil ist das gute Verhältnis von Lohnkosten und Arbeitsqualität“, glaubt Ladislav Glogar, Direktor des Mährisch-Schlesischen Automobilclusters. Seine Organisation versucht, die Kooperationen der lokalen Zuliefererbranche zu stärken. Laut Glogar sind rund hundert Komponentenhersteller in der Region aktiv. Allein Continental und Brose haben mehrere Tausend Jobs geschaffen.
Der Strukturwandel von der Montanindustrie zu einer modernen Zulieferindustrie für die Automobilbranche sei schwerer und langwieriger als erwartet, erklärt Experte Glogar. Inzwischen sei in der Branche eine neue Phase eingeläutet worden, bei der die Unternehmen neben der Produktion auch massiv ihre Forschungsaktivitäten ausbauen und Beschäftigte für Konstruktionsbüros suchen. „Wir können aber nicht davon ausgehen, dass die Bergleute, die zwanzig Jahre unter Tage gearbeitet haben, nun für die Entwicklungsabteilungen der Automobilzulieferer umgeschult werden.“ Die neu entstehenden Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung richteten sich an die neue Generation.
Dabei kann die Region durchaus auf eine lange Tradition im Fahrzeugbau zurück blicken. Dreißig Kilometer südlich von Ostrava sitzt Tatra Trucks, einer der ältesten Automobilhersteller Europas. Das Unternehmen hatte schon in den 1930er Jahren mit aerodynamischen Pkw-Modellen und luftgekühltem Heckmotor für Furore gesorgt. Später gehörten die dort produzierten Lastwagen zu den Dauersiegern der Rallye Paris-Dakar.
IT-Sektor zapft die Hochschulen an
Neben der Automobilindustrie soll der IT-Sektor zu einer Zukunfts- und Wachstumsbranche in Ostrava werden. Die Stadt ist nach Prag und Brno der drittwichtigste Standort für zentrale Dienstleistungszentren großer Unternehmen (Shared Service Centers, SSC). Schon 26 internationale Konzerne betreiben solche IT-Hubs in der Stadt. Sie beschäftigen über 7.000 Menschen und werden angelockt von günstigen Büromieten und der großen Zahl von Hochschulabsolventen. An den drei Universitäten der Stadt sind über 21.000 Studierende eingeschrieben.
Richtig große Datenmengen verarbeiten kann in Ostrava das Nationale Supercomputerzentrum IT4Innovations. In einem modernen Betonquader auf dem Campus der VŠB stehen die beiden leistungsstärksten Rechner des Landes – Anselm und Salomon. Benannt sind sie nach dem Industriellen Anselm Salomon Rothschild, dem einst wichtige Hüttenbetriebe und Kohlegruben in der Stadt gehörten. „Ostrava wurde als Standort gewählt, um die wirtschaftliche Diversifizierung der Region voranzubringen und weil es bei uns viel Expertise auf dem Gebiet der angewandten Mathematik gibt“, erklärt Branislav Jansík, Servicedirektor an dem Rechenzentrum. „Unser früherer Rektor fand dafür ein schönes Bild: Wir betreiben heute Data-Mining statt Kohleförderung.“
Auf den Computern laufen derzeit 150 Projekte. „Hier werden verschiedene Prozesse berechnet, um zum Beispiel Vorhersagen über Materialeigenschaften, Verkehrsflüsse oder über Erdbeben treffen zu können“, so Experte Jansík. Auch deutsche Forschungseinrichtungen nutzen die Rechenleistung in Ostrava.
Rund 100 Wissenschaftler arbeiten in dem Rechenzentrum. Als der Supercomputer Salomon 2015 erstmals hochfuhr, gehörte er zu den 40 schnellsten Rechnern der Welt. Inzwischen ist er auf Platz 87 abgerutscht. Darum plant IT4Innovations bereits ein Update. „Bis 2020 wollen wir Salomon ersetzen und dann wieder in die Top 50 kommen“, sagt Branislav Jansik. Er wünscht sich, dass künftig mehr Firmen aus der Region die Möglichkeiten des Supercomputers nutzen. Bislang zapfen vor allem wissenschaftliche Forschungseinrichtungen die Rechner an.
Weniger Feinstaub als in der Prager Luft
Der Hightech-Würfel auf dem Unicampus zeigt, wie erfolgreich die Region ihre industrielle Vergangenheit abschüttelt. „Einer der Schwachpunkte bleibt jedoch der schlechte Ruf in Zusammenhang mit Luftverschmutzung“, gibt Tomáš Kolárik von der regionalen Entwicklungsagentur MSID zu. „Aber auch hier konnten wir in den letzten 30 Jahren enorm viel erreichen. Die Messwerte haben sich deutlich verbessert und die lokalen Unternehmen investieren weiterhin große Summen, um die Emissionen zu verringern.“ Tatsächlich gehört Mährisch-Schlesien nicht mehr zu den größten Luftverschmutzern im Land. Die Feinstaubbelastung in Prag zum Beispiel ist doppelt so hoch. Bei Stickstoffoxiden liegt der Bezirk Ústí nad Labem weit vorn. Nur bei Kohlenstoffmonoxid kommt die Region Ostrava auf die höchsten Werte im Land.
Doch auch das soll sich ändern. Zusätzlich zum nationalen Programm zum Austausch von Heizkesseln vergibt die Stadt Ostrava extra Fördermittel an Hausbesitzer. Der örtliche Nahverkehr soll bis 2023 zu 95 Prozent emissionsfrei fahren. Der kommunale Fuhrpark und die städtische Polizei werden schrittweise auf Elektroautos umgestellt. „Rund um die Stadt haben wir einen Grüngürtel geschaffen und im Stadtgebiet fast eine halbe Millionen Bäume und Sträucher gepflanzt“, sagt Ostravas Entwicklungschef Václav Palička. Dennoch: Für manche Emissionen könne die Region gar nichts. Die kämen aus dem Nachbarland Polen, das weiterhin stark auf die Kohleindustrie setze. In Ostrava sollen solche Rußwolken bald nur noch an eine vergangene Epoche erinnern.
Autor: Gerit Schulze, Germany Trade & Invest