Tschechien muss sich neu erfinden
Seit genau 20 Jahren ist Tschechien Mitglied der Europäischen Union. Seitdem sind die Beziehungen zu Deutschland immer enger geworden – über den Handelsaustausch und über gegenseitige Investitionen. Doch um ein attraktiver Standort zu bleiben, muss Tschechien Reformen anpacken.
Von Gerit Schulze | Germany Trade & Invest
Die Tschechische Republik gehört zu den 50 größten Volkswirtschaften der Welt. Ihre Wirtschaftsleistung ist etwa so groß wie die Finnlands. In Mittelosteuropa hat das Land nach Polen und Rumänien das drittgrößte Bruttoinlandsprodukt. Bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf kommen die knapp 11 Millionen Tschechen auf 28.500 Euro (2023). Damit liegen sie deutlich vor Polen (19.800 Euro) und auch vor südeuropäischen EU-Staaten wie Portugal oder Griechenland.
Für Deutschland ist das Nachbarland der zehntwichtigste Handelspartner. Der gemeinsame Warenaustausch betrug 2023 über 113 Milliarden Euro und lag damit über dem Wert für weitaus größere Länder wie Spanien oder Japan. Ebenso ist Tschechien ein bedeutender Investitionsstandort für die deutsche Industrie.
IT und Handel bestimmen immer mehr die Wirtschaftsstruktur
Das verarbeitende Gewerbe mit der Automobilindustrie dominiert weiter Tschechiens Wirtschaftsleistung. Doch erste Umbrüche deuten sich an, Dienstleistungen gewinnen an Bedeutung.
Tschechien durchlebt zurzeit eine ungewöhnlich lange Schwächephase. Dadurch gerät die seit dem EU-Beitritt 2004 eingesetzte wirtschaftliche Dynamik ins Stocken. Der Höchststand der Wirtschaftsleistung aus dem Jahr 2019 konnte nach dem Einbruch infolge der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine bislang nicht wieder erreicht werden. Damit fällt das Land im regionalen Vergleich zurück. Das Bruttoinlandsprodukt im Nachbarland Polen wuchs seit dem EU-Beitritt jährlich um 1,5 Prozentpunkte schneller als die tschechische Wirtschaft. Die Slowakei legte jedes Jahr um fast 1 Prozentpunkt kräftiger zu.
Tschechien stößt an seine Wachstumsgrenzen, weil das Arbeitskräftepotenzial erschöpft ist, weil die starke Abhängigkeit von russischen Energieträgern die Preise für Öl und Gas seit Moskaus Ukraineinvasion enorm erhöht hat und weil der Strukturwandel in den Kernbranchen Automobilindustrie, Chemie und Maschinenbau nur langsam vorankommt.
Autobranche kommt nur langsam aus dem Tief
Die wichtige Industriebranche Automobilwirtschaft kann bislang nicht an ihre alten Rekorde anknüpfen. Während das Nachbarland Slowakei in den letzten Jahren mit Jaguar Land Rover und Volvo zwei weitere Weltkonzerne von einer neuen Produktionsstätte überzeugen konnte, ging Tschechien leer aus. Die Fahrzeugproduktion erreichte ihr Maximum im Jahr 2018 mit 1,44 Millionen Pkw. Im Jahr 2023 stieg der Ausstoß allerdings um 15 % auf 1,4 Millionen Autos.
Nur langsam gelingt die Umstellung auf neue Antriebsarten. Nicht einmal jedes zehnte in Tschechien produzierte Auto war 2023 ein reines Elektrofahrzeug. Die Versuche, internationale Konzerne für den Aufbau einer Batterieproduktion zu gewinnen, sind bislang gescheitert. Eine schwächelnde Fahrzeugbranche ist eine Gefahr für die tschechische Wirtschaftsentwicklung. Denn laut Automobilverband AutoSAP entfallen 9 % des BIP und ein Drittel der Forschungsausgaben auf den Automobilsektor.
Die Regierung strebt an, neue Wirtschaftszweige zu unterstützen und anzusiedeln. Dazu gehören die Halbleiterproduktion und künstliche Intelligenz. Außerdem soll die Infrastruktur so ausgebaut werden, dass Tschechien zum logistischen Drehkreuz in Europa wird. Im Stromsektor sind massive Investitionen in erneuerbare Energiequellen und in die Atomkraftwerke Dukovany und Temelín geplant. Der Energieverbund mit Deutschland soll höhere Kapazitäten erreichen.
Nimbus des Standorts bröckelt
Nach ihrem EU-Beitritt war die Tschechische Republik eines der attraktivsten Investitionsziele deutscher Unternehmen. Der Bestand der deutschen Direktinvestitionen belief sich Ende 2022 laut der Tschechischen Nationalbank auf fast 27,5 Milliarden Euro. Damit ist Deutschland der drittgrößte Auslandsinvestor in Tschechien nach den Niederlanden und Luxemburg. Diese beiden Länder sind aus steuerlichen Gründen ein beliebter Holdingsitz. Die wichtigsten Zielbranchen für ausländische Investoren sind der Finanzsektor und das verarbeitende Gewerbe. Auf sie entfallen jeweils rund ein Viertel des Gesamtbestands. Außerdem sind der Immobilienerwerb und der Groß- und Einzelhandel beliebte Sektoren.
Allerdings hat Tschechien als Investitionsstandort zuletzt an Attraktivität verloren. Das zeigen auch die Ergebnisse der jüngsten Konjunkturumfrage der DTIHK. Als größte Risiken wurden die schwache Nachfrage, der Fachkräftemangel und die hohen Energiepreise genannt.
Die im regionalen Vergleich sehr hohen Strom- und Gaspreise beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Unternehmen. Die Inflationsrate war bis 2023 höher als in den meisten anderen Ländern Europas. Außerdem gehen Tschechien die Fachkräfte aus. Im Land mit der niedrigsten Arbeitslosenquote der EU herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Die Zuwanderung von Arbeitskräften ist politisch nicht erwünscht, sodass Tschechien inzwischen nach Slowenien die höchsten Löhne in Mittelosteuropa hat. Laut Eurostat lagen die durchschnittlichen Arbeitskosten je Stunde 2022 bei 16,40 Euro (Slowakei 15,60 Euro; Polen 12,50 Euro).
Große Grundstücke schwerer zu finden
Außerdem wird es schwerer, geeignete Baugrundstücke zu finden, denn das Umweltministerium will dem Flächenverbrauch engere Grenzen setzen. Eine Novelle des Gesetzes zum Schutz des landwirtschaftlichen Bodens soll verhindern, Agrarland umzuwidmen und darauf größere Industrie- und Gewerbeparks zu errichten. Das könnte Großinvestitionen auf der grünen Wiese künftig erschweren. Zugleich regt sich von Pilsen bis Ostrava häufiger lokaler Widerstand gegen größere Bauvorhaben. Das musste zuletzt unter anderem der Volkswagen-Konzern erleben, der bei Pilsen auf einem Flughafengelände eine Batterieproduktion plante.
Nachbarländer zuletzt erfolgreicher
Dieser Mix aus Negativfaktoren führte dazu, dass Tschechien in den vergangenen Jahren kaum noch große Neuansiedlungen gewinnen konnte – im Unterschied zu den Nachbarländern Deutschland, Polen und Slowakei. Anders sieht es bei den Unternehmen aus, die bereits im Land engagiert sind. Sie reinvestieren ihre Gewinne häufig in den Ausbau ihrer tschechischen Aktivitäten, in die Automatisierung der Produktionsabläufe sowie in Forschung und Entwicklung. Das kommt auch den Plänen der Regierung entgegen, das Image des Landes als verlängerte Werkbank westlicher Konzerne abzustreifen und Investoren zu mehr Wertschöpfung zu verpflichten.
Produzierendes Gewerbe bleibt dominant
Dabei bleibt die verarbeitende Industrie allerdings das Rückgrat der tschechischen Wirtschaft. Sie hatte 2022 einen Anteil von 23 % an der Bruttowertschöpfung im Land. Allerdings müssen Branchen wie Metallverarbeitung, Chemie oder Maschinenbau in den nächsten Jahren ihre Klimabilanz nachhaltig verbessern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Noch ist die Bedeutung des produzierenden Gewerbes für die Gesamtwirtschaft stabil und hat sich in den vergangenen zehn Jahren nur leicht verringert. Stärker war der Rückgang beim Energiesektor, der nur noch einen Anteil von 2,3 % an der Wertschöpfung hat. Im Jahr 2012 waren es noch 4 %. Die Förderung von Bodenschätzen spielt nach der Schließung vieler Kohlegruben kaum noch eine Rolle für die Wirtschaftsleistung.
An Einfluss gewonnen hat der Groß- und Einzelhandel, der inzwischen fast 13 % zur Bruttowertschöpfung in Tschechien beiträgt. Auch Informationstechnologien und Telekommunikation sowie das Gesundheitswesen legen zu.
Die Verschiebungen bei der Wertschöpfung werden sich auch auf dem Arbeitsmarkt auswirken. Noch sind über 200.000 Menschen direkt in der Fahrzeugproduktion beschäftigt. Doch die Zahl ist seit fünf Jahren bereits um ein Zehntel geschrumpft. Dieser Abbau wurde durch neue Stellen in der IT-Branche sowie im Gesundheits- und Pflegesektor kompensiert.