Interview mit der Deloitte-Chefin Diana Rádl Rogerová
„Ich träume davon, eine eigene Schule zu eröffnen.”
Sie hat Ihr ganzes Berufsleben bei einem einzigen Unternehmen gearbeitet, 23 Jahre. Von Routine und Abgeklärtheit jedoch keine Spur. Wer mit Diana Rádl Rogerová eine Stunde im Gespräch verbringt, sitzt mit einer hochmotivierten, hochkonzentrierten Frau zusammen, die alle wichtigen Trends auf dem Radar hat. Und vielleicht gerade deshalb macht ihr das hohe Tempo im Business ernsthaft Sorgen.
Es war ganz schön schwer, einen Termin mit Ihnen zu finden. Wie viele Stunden arbeiten Sie am Tag?
Ich denke, im Schnitt so 12 bis 13 Stunden.
Geht das für Sie in Ordnung? Das mit der Familie zu vereinbaren, klingt anstrengend, Sie haben ja einen Sohn.
Einfach ist das nicht, aber wenn man sich das Tempo im Business so anschaut, geht es uns ja allen so. Allerdings arbeite ich auch keine 12 Stunden am Stück. Ich stehe ziemlich früh auf, manchmal schon um 5:30. Ich fange mit den E-Mails an, damit ich alles vom Tisch habe, und habe danach Zeit für meinen Sohn und meinen Mann. Dann gehe ich zur Arbeit und bleibe dort bis 18 oder 19 Uhr, abends widme ich mich wieder meiner Familie, später arbeite ich noch mal meine Mails ab. Ich denke, es sind so 12 bis 13 Stunden am Tag. Und ob das in Ordnung ist für mich?
Ja, ob Sie nicht ständig das Gefühl haben, weder das eine noch das andere gut zu schaffen …
Ich bin zum Glück keine Perfektionistin. Schon lange nicht mehr. Was ich schaffe, das schaffe ich. Meine Arbeit macht mir Spaß, genauso wie meine Familie.
Sie stammen aus einer tschechisch-kubanischen Familie. Mit 12 Jahren kamen Sie in die ČSSR und wurden in eine Sonderschule gesteckt, weil Sie kein Tschechisch konnten. Heute sind Sie Chefin von Deloitte und 2019 auf Platz drei unter den Top-100-Frauen Tschechiens gelandet. Eine wirklich steile Karriere.
So würde ich das nicht darstellen. Damals dachte ja keiner, dass ich auf den Kopf gefallen bin. Nur weil ich kein Tschechisch konnte, kam ich in diese Sonderklasse – und auch nur für ein Vierteljahr. Aber für mich war das eine Lektion fürs Leben. Ich glaube, charakterlich hat mir das sehr viel gegeben.
„Ich habe aufgehört, Menschen zu unterschätzen.”
Wie meinen Sie das?
Ich habe aufgehört, die Menschen zu unterschätzen. Jemanden zu unterschätzen, ist das Schlechteste, was man im Business tun kann. Das habe ich gerade in dieser Sonderklasse gelernt. Das ist eine Eigenschaft, die mich voran bringt. Ich weiß immer, dass ich nie weiß, was mich von der anderen Seite erwartet. Ich meine das positiv, nicht negativ. Ich versuche immer, die Gegenseite zu verstehen. Im Business geht es mir nie darum, dass sich mein Gegenüber schlecht fühlt. Ich glaube wirklich an Win-win.
Interessant. Gerade in der Sonderschule kamen Sie zur Einsicht, nicht besser zu sein als andere. Das hätte auch genau anders kommen können …
Wozu diese Kinder alles imstande waren … Sie können sich nicht vorstellen, wie manche von ihnen malen konnten. Vielleicht hat irgendeiner von ihnen gerade irgendwo auf der Welt eine Ausstellung! Aber, dass sie früher auf eine Sonderschule gingen, damit brüsten sie sich natürlich nicht. Und so erfährt das auch niemand.
Sie sind schon sehr lange bei Deloitte, haben hier auch Ihre Berufslaufbahn begonnen. Warum haben Sie niemals die Firma gewechselt? Jetzt bitte keine PR…
Der Grund ist, dass ich hier immer wieder etwas anderes machen konnte. Ich kann so unglaublich viele Dinge hier ausprobieren, und paradoxerweise auch unterschiedliche Branchen.
Eigentlich würde man erwarten, dass jemand, der Unternehmen berät, auch selbst über Erfahrungen in mehreren Unternehmen und Branchen verfügt …
Richtig, ohne Zweifel. Auf der anderen Seite besteht heutzutage die größte Kunst darin, die unterschiedlichen Businesses miteinander zu verbinden. Früher gab´s das nicht, da war man Bankenexperte, also hat man im Bankenwesen beraten. Glauben Sie, dass sich Banker heute noch für eine Expertise im Bankensektor interessieren? Nein. Sie wollen wissen, was gerade passiert – im Consumer Business, vielleicht in der Telekommunikation oder anderen Bereichen. Sie müssen nach anderen Geschäftsmodellen suchen, nach anderen Wegen, an den Kunden heranzutreten. Die Bandbreite verändert sich gerade komplett.
Leadership, Top-Management. Wie muss ein Top-Manager heutzutage sein, was muss er können?
Ich denke, heute geht es in Sachen Leadership nicht mehr um eine einzige Person. Das hat sich extrem verändert. Früher hatten wir starke CEOs, die mit harter Hand regierten. Heute ist das keine One-Man- oder One-Woman-Show mehr. Es geht vielmehr um das Management als Ganzes, um Inklusion im Unternehmen, um Unternehmenskultur. Darum, wie man Leute dazu bringt, dass sie Ideen haben und darüber nachdenken, welche Richtung die Firma einschlagen soll. Wenn dem Management so etwas gelingt, dann ist es das richtige Management.
Schaffen es die großen Konzerne, sich aus ihren festen hierarchischen Strukturen zu lösen und flexibler zu werden?
Es geht darum, ob sie dem eine Chance geben. Ich erachte es als außerordentlich positiv, wenn sich Firmen darum bemühen. Manche sind noch in der Versuchsphase und machen Fehler, bei anderen beginnt es schon zu funktionieren. Wenn wir uns verändern, machen wir Fehler. Das ist völlig in Ordnung. Was am Ende dabei herauskommt, weiß wahrscheinlich nur der liebe Gott.
„Was wir heute anbieten, gibt es in zwei Jahren nicht mehr.”
Deloitte erbringt bestimmte Standarddienstleistungen wie Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung. Gleichzeitig erleben wir aber eine rasante technologische Entwicklung im Bereich Digitalisierung, Automatisierung, Startups, Disruption und zu allem eine wahnsinnig schnelle Kommunikation auf allen Kanälen. Was brauchen die Kunden dabei von Ihnen? Haben sich Ihre Services verändert?
Auch ein klassisches Audit und der ganze Steuerbereich haben sich stark verändert. Den größten Umbruch erleben wir aber natürlich beim Consulting, wo unsere Dienstleistungen im Schnitt eine Lebensdauer von zwei bis drei Jahren haben. Was wir heute anbieten, gibt es in zwei Jahren nicht mehr – manches vielleicht schon in einem halben Jahr nicht mehr. Sie haben es auf den Punkt gebracht: Heute beschäftigen wir uns vor allem mit Automatisierung, Robotik, Digitalisierung, suchen neue Vertriebskanäle oder neue Geschäftsmodelle. Wir befassen uns viel mit Analytics, Künstlicher Intelligenz und der Nutzung von Big Data. Hinzu kommt, was ich so „Zukunft der Arbeit“ nenne. Wie sollen Führung, Unternehmenskultur und unser Arbeitsumfeld künftig aussehen, wie die Leute geschult werden, damit sie auf die Zukunft vorbereitet sind. Und wenn Sie mich in einem Dreivierteljahr fragen, wird alles bestimmt wieder ganz anders sein.
Haben Sie nicht das Gefühl, dass die Firmen oft denken: Wir stellen Kicker, Billard und Hipster-Möbel auf und werden jetzt „agile“, aber in Wirklichkeit haben sie Probleme, das auch mit agilem Geist und Inhalt auszufüllen?
Wenn Sie durch unser Gebäude gehen, sehen Sie, dass es hier weder Kicker noch Billard gibt. Mit Gamification schaffen wir kein Arbeitsumfeld. Die meisten Firmen versuchen – und das ist keine Aufgabe von ein paar Monaten – ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich die Leute „safe“ fühlen. Wo sie spüren, dass ihnen niemand Vorwürfe macht, wenn ihnen mal etwas misslingt oder der Businessplan nicht erfüllt wurde. Wer sich „safe“ fühlt, hat auch weniger Angst, neue Dinge auszuprobieren. Das Schlimmste ist, und das beginnt leider schon in der Schulzeit: Wer in der Schule einen Fehler macht, wird sofort dafür ausgeschimpft. Wichtig ist es doch aber zu wissen, wie und was man aus einem Fehler lernt. Genau so ein Umfeld versuchen Firmen heutzutage über die Agilität zu gestalten: Probiert neue Dinge aus! Versuch – Irrtum, Versuch – Irrtum … aber gesteuert. Irgendetwas kommt dabei heraus.
Bereitet das tschechische Schulsystem, vor allem die Sekundarstufe, die Schüler auf eine solche Gesellschaft, ein solches Business vor?
Meine Antwort lautet eindeutig NEIN. Das beschäftigt mich permanent. Ich träume davon, eine eigene Schule zu eröffnen, die auf der virtuellen Realität basiert, in der die Kinder schneller lernen und viel mehr Interaktion erleben und neue Sachen ausprobieren. Das ist mein Traum. Ich glaube, ich werde ihn mir erfüllen. Heute ist es an den großen Unternehmen, in die Bildung zu investieren. Ein erstaunliches Beispiel hierfür ist Google, aber auch wir von Deloitte übernehmen diese Aufgabe. Zum Beispiel veranstalten wir die sogenannten KidsXO-Events. Einerseits sollen Kinder darüber Technologien verstehen lernen, andererseits wollen wir ihnen die ganze Bandbreite der Wirtschaft aufzeigen und ihnen ermöglichen, auszuprobieren, was ihnen Spaß macht. Wir als Geschäftsleute müssen dazu beitragen, dass sich das Schulsystem weiterentwickelt. So wie es heute funktioniert, ist es nicht richtig. Auch wenn es durchaus Schulen gibt, die sich verändern. Ich will nicht alle in einen Topf werfen. Aber auch die Öffentlichkeit muss Druck ausüben. Solange wir uns alle damit zufrieden geben, Hauptsache die Kinder bringen immer Einsen nach Hause, wird sich auch nichts ändern.
Drill und Einsen werden oft bis heute als der richtige Weg angesehen …
Es gibt Studien, die klar belegen: Die „Einsen-Schreiber“ aus der Schule gehören zum Typ Wissenschaftler, das sind diejenigen, die für den Drill stehen. Die „Zweien-Schreiber“ sind häufig Manager, die manchmal das Gefühl haben, dass sie alles wissen und kennen, zugleich haben sie aber auch noch etwas Empathie. Am besten schneiden aber die „Dreier-Kandidaten“ ab. Das sind die Firmengründer, die Startupper, die früher manchmal die Schule geschwänzt haben, aber keine Angst haben, neue Sachen auszuprobieren. Heute brauchen wir alle diese Gruppen, auch die Zweier- und Dreier-Kandidaten. Die sollten wir also nicht verdammen.
„Das Tempo heute ist verrückt.”
Zurück zum Thema Tempo. Ob im Business, bei den Innovationen oder in der Kommunikation – alles läuft in einem schwindelerregenden Tempo ab. Befinden wir uns gerade zwischen einer wunderbar schnellen Time-to-Market und einem Burn-out?
Psychologen und Psychiater sind äußerst zukunftsfähige Berufe. Davon bin ich absolut überzeugt. Das Tempo heute ist wirklich verrückt. Als Kinder sind wir noch unter dem Druck aufgewachsen, immer ausgezeichnet und perfekt sein und alles können zu müssen. In Kombination mit dieser rasanten Welt haben viele von uns manchmal das Gefühl – verzeihen Sie bitte den Ausdruck – „Schei**, das schaffe ich nicht!“ Die junge Generation ist nicht so erzogen, mit diesen hohen Erwartungen, und sie hat auch mehr Selbstvertrauen. Ich hoffe, dass sie nicht so nah an einem Burn-out sein werden wie wir. Wir werden sehen. Das hohe Tempo jedenfalls macht mir schon große Sorgen. Heutzutage wird viel über „Well-being“ diskutiert – also wie man sich mental erholt. Es ist nicht so entscheidend, ob jemand 12 Stunden arbeitet oder nur sieben. Es geht darum, ob man abschalten kann. Ich habe wirklich Angst vor Burn-outs. Als Chefin des Unternehmens und des Managements ist es auch meine Aufgabe, dass sich unsere Mitarbeiter mental erholen können.
Sie haben selbst einen Coach, Jan Mühlfeit. Ist das einer der Gründe, warum Sie ihn haben?
Das ist mit ein Grund. Er ist einfach unglaublich, auch was den Erfahrungshorizont betrifft. Zum Beispiel hat er selbst ein Burn-out durchlebt. Mit Leuten zu reden, die genau wissen, wovon sie sprechen, ist fantastisch. Auch ich habe verschiedene Zeiten erlebt, in denen ich, wenn man das so sagen kann, „unten“ war. Und es ist toll, wenn es Menschen um einen herum gibt, die den eigenen Horizont erweitern. Es ist gut, einen Coach zu haben, der einem zeigt, dass es auch andere Sichtweisen auf die Welt gibt.
Haben Sie rechtzeitig gemerkt, dass Sie einen solchen „Spiegel“ in Ihrem Job brauchen? Oder war es schon zu spät?
Nein, überhaupt nicht. Ich bin ein Mensch, der es nicht so weit kommen lässt, dass sich die Dinge in einem desolaten Zustand befinden. Denke ich jedenfalls. Lieber habe ich vier Varianten und weiß, dass eine davon klappt und die anderen drei vielleicht nicht. Wenn man die Augen nicht verschließt, kann man solche Dinge rechtzeitig meistern. Ich war nie in einer solchen Situation wie Jan Mühlfeit, dass ich am Morgen nicht mehr aufstehen konnte. Aber jeder von uns kennt Situationen, in denen man sich – mit Verlaub – einfach nur übel fühlt, weil man vielleicht einen schlimmen Fehler gemacht hat. Aber ich bedauere keinen einzigen Fehler, weil sie mich menschlich vorangebracht haben. Nicht immer beruflich, aber menschlich. Ich will immer noch Business machen mit Leuten, die ich schätze und denen ich vertraue. So etwas lässt sich durch keine Technologie ersetzen.
Ich möchte mit Ihnen noch über eine Sache sprechen, um die wir uns thematisch eigentlich die ganze Zeit drehen: Nachhaltigkeit. Das DTIHK-TopThema 2020 heißt #PartnersForSustainability, weil wir überzeugt sind, dass Firmen gar nicht anders können, als sich damit zu beschäftigen. Was bedeutet Nachhaltigkeit für Sie?
„Nachhaltigkeit bedeutet, nicht nur an sich selbst zu denken.”
Dass das oberste Priorität hat, ist mir beim Blick auf die junge Generation klar geworden. Die interessiert sich dafür, wie die Welt funktioniert, viel mehr als wir. Deloitte wurde vor genau 175 Jahren gegründet. Ich will, dass es das Unternehmen auch noch weitere 175 Jahre gibt. Und das betrifft auch alles andere. Ich muss mich doch so verhalten, dass ich künftigen Generationen die Welt in einem noch besseren Zustand übergebe. Das ist für mich Nachhaltigkeit. Auch über Bildung nachzudenken. Und ich will heute eine Firma als Lieferant, als Geschäftspartner, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigt. Nicht nur für das Reporting, sondern weil es für sie strategische Priorität ist. Man kann nicht alles auf einmal ändern, aber ich will mir sicher sein, dass ich mit Firmen zusammenarbeite, die in Zukunft so denken. Unternehmen, deren Führungskräfte sich heute nicht mit diesem Thema befassen, wird es in ein paar Jahren nicht mehr geben. Schon allein deswegen, weil die Leute nicht mehr für solche Unternehmen arbeiten wollen. Nachhaltigkeit bedeutet, nicht nur an sich selbst zu denken. Es ist eine Strategie für die Zukunft.
Lassen sich Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit miteinander verbinden?
Ich glaube ja. Wachstum sollte nicht kurzfristig, sondern langfristig sein. Also nachhaltig.
Also lieber langsamer?
Lieber langsamer, aber stabil.
Interview: Christian Rühmkorf
Foto: Tomáš Železný