Gemeinsam in der nächsten Transformation

30 Jahre deutsch-tschechische Wirtschaft: Eine Bestandsaufnahme

Deutschland ist mit wenigen Volkswirtschaften über Investitionen und Handel so eng verknüpft wie mit der Tschechischen Republik. Dabei kamen die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen erst vor drei Jahrzehnten wieder in Gang. Auf die samtene Revolution folgte 1993 die Trennung der Tschechoslowakei in zwei eigenständige Staaten. Bei der Transformation von der Planwirtschaft in eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft spielten deutsche Unternehmen eine wichtige Rolle: als Investoren und Beschaffer, bei Modernisierung und Know-how-Transfer. Die heutige Transformation zu digitalen und nachhaltigen Ökonomien betrifft beide Seiten gleichermaßen. Sie hat ein neues Kapitel der Zusammenarbeit geöffnet, in dem Innovationen, Automatisierung und Klimaneutraliät nach vorn rücken. Es sind Felder, in denen sich tschechische Unternehmen erfolgreich auch in Deutschland engagieren.

Die Dynamik beeindruckt: Im Jahr 1993 tauschten beide Nachbarländer Waren im Wert von gerade einmal 7 Milliarden Euro aus – 2022 waren es 113 Milliarden Euro. Die Tschechische Republik ist Deutschlands zehntwichtigster Handelspartner, hat Großbritannien überrundet und ist nach Polen der wichtigste Partner in Mittel- und Osteuropa. Für Tschechien wiederum steht Deutschland auf Rang eins, mit in den vergangenen 15 Jahren abnehmender Tendenz von einem Drittel auf circa ein Viertel am Warenaußenhandel. Dabei erzielt Tschechien seit 2009 kontinuierlich Handelsüberschüsse, die 2022 in einen Spitzenwert von 4,5 Milliarden Euro mündeten.

Zu Katalysatoren des bilateralen Handels wurden deutsche Unternehmen, die sich in den 1990er Jahren in tschechische Betriebe einkauften und diese strategisch weiterentwickelten oder die auf der grünen Wiese Fertigungshallen, Logistikzentren, Supermärkte aufbauten. Tschechiens EU-Zugehörigkeit ermunterte später weitere Firmen zu dem Schritt über gemeinsame Grenze. Mittelständische Unternehmen, die unter Globalisierungsdruck gerieten, ergriffen die Chance, im Nachbarland kostengünstig produzieren zu können.

Das betraf fast alle Industriebranchen, besonders aber die Automobilindustrie, in der der harte Preiskampf den Verlagerungstrend nach Mittel- und Osteuropa stützte. Die Tschechische Republik bot Investoren technisch gut ausgebildete Fachkräfte, Maschinenbautradition, niedrige Löhne und eine logistische Premiumlage. In Böhmen und Mähren entstanden dadurch massiv neue Arbeitsstellen. Lieferbeziehungen wurden neu oder wiederangeknüpft.

Generell haben die pragmatische Ansiedlungspolitik und das Potenzial tschechischer Firmen viel ausländisches Kapital angezogen und das Land rasch in die internationalen Wertschöpfungsketten eingebunden. Besonders stark vertreten ist es im verarbeitenden Gewerbe, wo die Auslandsunternehmenseinheiten 69 % der Umsätze und 59 % der Bruttowertschöpfung verzeichnen.

Deutsche Auslandstöchter unter der Lupe

Welches Gewicht haben die aus Deutschland kontrollierten Unternehmen? Über 3.200 aktive Firmen der nichtfinanziellen gewerblichen Wirtschaft zählt Eurostat in der Statistik zu den Auslandsunternehmenseinheiten. Mehr Töchter in der EU weist Deutschland nur in Österreich auf. In Tschechien bilden sie die stärkste Vertretung aus dem Ausland. 2020 erlösten sie 78,7 Milliarden Euro, beschäftigten 346.000 Mitarbeiter und hatten eine unternehmerische Bruttowertschöpfung von 16,8 Milliarden Euro. Ihr Anteil an den Werten der ausländischen Investoren lag jeweils bei circa einem Drittel.

Umgerechnet auf alle gewerblichen Unternehmen der tschechischen Volkswirtschaft machen die Niederlassungen deutscher Investoren etwa 15 % der Umsätze und der unternehmerischen Bruttowertschöpfung aus. Im verarbeitenden Gewerbe sind 1.100 Auslandsunternehmenseinheiten aus Deutschland tätig, so viele wie in keinem anderen EU-Land. Sie verzeichnen fast ein Viertel der Umsätze und Wertschöpfung.

Am 28. März 1991 unterschrieben der tschechische Industrieminister Jan Vrba und der Vorstandsvorsitzende des Volkswagen Konzerns Carl H. Hahn den Vertrag über die Gründung eines Joint Venture zur Produktion von ŠKODA Automobilen.

Die Autoindustrie als Erfolgsgeschichte, aber nicht allein

Die Zusammenarbeit startete Anfang der 1990er Jahre mit einem Superlativ – dem Einstieg des Volkswagenkonzerns beim tschechischen Autobauer Škoda. Seither hat sich der Automobilhersteller aus Mladá Boleslav zu einem Global Player entwickelt, der weltweit auf mehr als 100 Märkten aktiv ist. Tschechiens lange Automobilgeschichte erleichterte deutschen System- und Komponentenproduzenten den Zugang. Zu den umsatzstärksten gehören Bosch, Continental und Kiekert, aber auch viele andere deutsche Traditionsnamen wie ZF, Mahle, Borgers, Brose, Hella, Benteler, Knorr-Bremse. Zum Teil betreiben sie mehrere Werke am Standort Tschechien. Es ist kein Zufall, dass die Produkte der Autoindustrie im engeren Sinne am bilateralen Handel mit rund 16 % ins Gewicht fallen. Deutschland importiert aus keinem anderen Land einen höheren Wert an Kfz-Teilen und -Komponenten.

Das heißt aber auch, dass 84 % auf andere Branchen entfallen, wobei im Maschinenbau, der Gummi- und Kunststoffverarbeitung, Elektronik, Elektrotechnik und Metallbearbeitung ebenfalls viele Betriebe der Autoindustrie zuarbeiten. Dennoch: Das Observatorium für wirtschaftliche Komplexität OEC führte Tschechien 2022 auf Rang 7 der komplexesten Volkswirtschaften, gleich zwei Ränge nach Deutschland. Das hat mit der diversifizierten Produkt- und offenen Handelsstruktur zu tun, zu der die Niederlassungen deutscher Unternehmen beitragen.

So ist der Technologiekonzern Siemens mit sieben Fertigungsstätten eine treibende Kraft bei Produktion und Export von Elektrotechnik und Elektromotoren. Das Maschinenbauunternehmen JUNKER legte 1992 durch Übernahme der Werke des Werkzeugmaschinenherstellers TOS Hostivař den Grundstein für die internationale Gruppe und erhöhte Tschechiens Exportzahlen bei hochpräzisen Schleifmaschinen. Seit über 30 Jahren produziert das Maschinenbauunternehmen Streicher in Pilsen Vakuumanlagen. Ebenso lange ist Hettich, ein Marktführer bei Möbelbeschlägen, in Žďár nad Sázavou engagiert, wo alle Zinkdruckguss-Aktivitäten der Gruppe zusammenlaufen.

Familienunternehmen mit langfristiger Strategie

Die meisten Niederlassungen gehören zu deutschen Familienunternehmen, deren Strategie langfristig ausgerichtet ist. Das gilt auch für den Einzelhandel: Hier vereinen die Schwarz-Gruppe, die Globus-Verbrauchermärkte und der Rewe-Konzern einen großen Teil der Umsätze des Lebensmitteleinzelhandels auf sich. Flächendeckend sind Hornbach, Deichmann, die Tengelmann-Gruppe mit Obi und Kik sowie die Drogeriemärkte Rossmann und dm-Markt vertreten. Die immer komplexeren Logistikbedürfnisse von Industrie und Handel werden auch von deutschen Transport- und Logistikdienstleistern gemanagt wie DHL, Schenker, Dachser, Geis, Hellmann oder Metrans.

Nach Angaben der Tschechischen Nationalbank ČNB betrug der Bestand deutscher Direktinvestitionen Ende 2021 fast 26 Milliarden Euro. Das macht Deutschland mit einem Anteil von gut 14 % zum drittgrößten Auslandsinvestor. Doch sind die Niederlande und Luxemburg auf den ersten beiden Plätzen Länder, die aufgrund von Steuervorteilen auch Firmensitz vieler internationaler, darunter tschechischer Holdings sind.

Auch 30 Jahre nach der Staatsgründung lässt das Interesse deutscher Investoren nicht nach. Im Jahr 2022 registrierte die ČNB einen Nettozufluss deutscher Direktinvestitionen in Höhe von fast 1,2 Milliarden Euro. Rund 45 % waren reinvestierte Gewinne. Kaum ein deutsches Unternehmen, das angesichts von Arbeitskräftemangel und hohen Energiepreisen nicht in Automatisierung, Digitalisierung und Energieeffizienz investiert.

Siemens-Elektrobusse des Verkehrsbetriebs Ostrava an der Ladestation in der Valchařská-Straße

Forschung und Entwicklung ist nachgezogen

Wegen der vergleichsweise niedrigen Arbeitskosten galt Tschechien zunächst als eine Art verlängerte Werkbank für ausländische Investoren. Doch sind Forschung und Entwicklung nachgezogen. Angaben des Tschechischen Statistikamts zufolge haben sich die F&E-Ausgaben in ausländisch dominierten Firmen allein seit 2010 fast verdreifacht, in rein tschechischen praktisch verdoppelt. Gemeinsam leisten sie 63 % der Forschungsausgaben. Diese erreichten 2021 erstmals 2 % des BIP, ein höherer Anteil als in Italien, Spanien oder Irland. Der EU-Durchschnitt ist 2,27 %.

Niederlassungen deutscher Unternehmen sind in F&E schon lange intensiv einbezogen. Siemens gehört weltweit zu den Vorreitern bei Lösungen für Industrie 4.0 und intelligente Infrastruktur. Dabei stützt sich der Technologieriese auch auf seine 13 F&E-Zentren und -Abteilungen und 14 Kompetenzzentren in der Tschechischen Republik in Gebieten wie intelligente Steuersysteme, Digitalisierungslösungen für die Fertigung, Bahntechnik und Elektromotoren. Die Entwicklungs- und Kompetenzzentren tragen zum Teil globale Verantwortung und beschäftigen mehr als 1.100 Experten und Expertinnen.

Übergang zur Elektromobilität gestartet

Nach Deutschland und Spanien ist Tschechien drittgrößter Pkw-Hersteller in Europa. Für das Autoland hängt viel davon ab, ob der strukturelle Übergang zur Elektromobilität gelingt. Taktgeber sind dabei Škoda Auto und seine Abteilung für technische Entwicklung in Mladá Boleslav, das 2021 ein Zentrum für den Bau von Testträgern und Prototypen in Betrieb genommen hat. Eine gute Nachricht ist, dass Škoda Auto 2022 ein Fünftel mehr Autos seiner elektrischen Enyaq iV-Familie verkauft hat, bis 2026 vier weitere batterieelektrische Modelle auf den Markt bringen und bis 2027 rund 5,6 Milliarden Euro in Elektromobilität und 700 Millionen Euro in Digitalisierung investieren will.

Der Mobilitätskonzern ZF betreibt am Standort Tschechien sechs Produktionswerke und drei Technologiezentren. In der Entwicklung sind mehr als 700 Mitarbeitende tätig. Ein Aufgabengebiet sind Software und Hardware, mechanische und mechatronische Elemente für elektrische Antriebe. ZF Openmatics in Pilsen konzentriert sich auf Konnektivität und Telematiksysteme.

Stärkung des Forschungsstandorts

Auch bei Bosch ist an die Seite der Fertigung die Entwicklungsverantwortung für Produkte des Gesamtunternehmen gekommen. Das 2019 erweiterte Entwicklungs- und Technologiezentrum in České Budějovice beschäftigt über 600 Ingenieure. Es geht um neue Autokomponenten und Mobilitätslösungen, darunter auch im Bereich Wasserstoff. BMW wiederum startete im Frühjahr 2023 in seinem Testzentrum für autonome Fahrlösungen in Sokolov die Erprobung von Assistenzsystemen. Für den Software-Konzern SAP ist Tschechien in Europa der zweitgrößte Standort. Er beschäftigt mehr als 3.000 Mitarbeitende in F&E, Innovation und im Business-Support.

Durch Zusammenarbeit mit den Universitäten stärken auch andere Töchter deutscher Unternehmen den Entwicklungsstandort Tschechien. Der Mobilfunkanbieter T-Mobile zum Beispiel richtete an fünf Forschungseinrichtungen des Landes 5G-Campus-Netze ein. Bei Instituten der Technischen Universitäten in Prag und Brno (CIIRC CTU und CEITEC VUT) gehören diese zu Testbeds der Industrie 4.0. Verbunden mit dem Testbed zweier deutscher Forschungseinrichtungen (DFKI und ZeMA) bilden sie ein Versuchslabor für geographisch verteilte Produktion. Dieses tschechisch-deutsche Forschungszentrum, kurz RICAIP, ist in Europa das größte Projekt auf dem Gebiet der industriellen Künstlichen Intelligenz (KI). Mit weiteren Testbeds stoßen noch die Technische Universität Ostrava und das Fraunhofer Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik dazu.

Europas größter Markt als Magnet

Durch die Ungerechtigkeit der Geschichte mussten sich rein tschechische Unternehmen in den 1990er Jahren unter den harten Bedingungen von Marktwirtschaft und Wettbewerb erst neu erfinden oder an ihre vorkommunistischen Traditionen anknüpfen. Sie ergriffen aber bald die Geschäftschancen auf Europas größtem Markt direkt vor ihrer Haustür. Laut Eurostat hat sich die Zahl der deutschen Töchter tschechischer Unternehmen in den vergangenen 12 Jahren mit 244 mehr als verdreifacht. Sie setzten 2020 fast 7 Milliarden Euro um und beschäftigten 21.300 Mitarbeitende.

Vertrieb ist dabei das eine. So fahren in sieben deutschen Städten Straßenbahnen des Pilsener Verkehrstechnikherstellers Škoda Group. Cottbus hat gerade 15 weitere bestellt. Mit Vertriebs- oder Servicebüros sind viele weitere Hersteller vertreten, etwa der Brünner Produzent von Rasterelektronenmikroskopen Tescan oder der auf Schweißanlagen und Montagetechnik spezialisierte Maschinenbauer Chropyňská strojírna. Einen Sprung machte in der Coronaphase der E-Commerce. Online-Supermarkt Rohlík beliefert als Knuspr.de Kunden in Bayern und im Rhein-Main-Gebiet und expandiert weiter. Im Online-Gebrauchtwagenhandel nehmen Driverama und Carvago seit Kurzem auch deutsche Kunden in ihr Visier.

Hinzu kommt die Produktion. Tschechiens größter Landmaschinenhersteller Agrostroj Pelhřimov expandierte 2021 durch den Kauf des Konkurrenten Wilhelm Stoll Maschinenfabrik. Maschinenbaukonzern Wikov erwarb 2019 die Gmeinder Getriebe Gruppe. Lebensmittel- und Chemiekonzern Agrofert hat schon länger vier Betriebsstätten in Deutschland, darunter SKW Piesteritz, einen Hersteller von Agro- und Industriechemikalien. Sie sind nicht die einzigen.

Deutsche Energiewende mit tschechischer Beteiligung

Zum wichtigsten Investitionsfeld aber wird die Energiewende. So plant die Lausitzer Energiegesellschaft LEAG, die den tschechischen Holdings EPH und PPF gehört, einen grünen Kraftpark mit einer Leistung von 7 Gigawatt. Unter dem Namen GigawattFactory sieht das Projekt Investitionen von circa 10 Milliarden Euro in Wind- und Fotovoltaikanlagen auf Bergbaufolgeland vor. Tschechiens staatlicher Stromkonzern ČEZ Group baut 2023 im Ruhrgebiet einen weiteren Onshore-Windpark. Er ist durch Übernahme der Energiedienstleistungsgruppe Elevion seit 2017 auf dem deutschen Markt für Dienstleistungen rund um CO2-Reduzierung, Energieeffizienzsteigerung und Energiekosteneinsparung präsent.

Den Digitalisierungsdruck in Deutschland nutzt Tschechiens dynamischer Tech-Sektor, dem der heimische Markt schon lange zu klein ist. Das IT-Beratungsunternehmen Adastra zum Beispiel hat sechs Büros in Deutschland, um Kunden bei der Umsetzung digitaler Geschäftsstrategien mit Data-Engineering und KI zu unterstützen. Aimtec ist mit Softwarelösungen auf die Digitalisierung von Produktion und Logistik spezialisiert. Benthor automatisiert Produktionsprozesse und programmiert Roboter. Und wer sich über Termine und Plenarsitzungen des Deutschen Bundetages informieren möchte, wird von einer App geführt, die das Prager Technologieunternehmen Ackee entwickelt hat.

Nicht nur im Warenhandel mit Deutschland erzielt Tschechien einen Überschuss. Auch bei den IT- und Telekommunikationsdienstleistungen fällt der Saldo seit Jahren positiv aus. Tendenz steigend. Mit den Interdependenzen der beiden benachbarten Volkswirtschaften wachsen auch die Chancen.

Text: Miriam Neubert, Germany Trade & Invest

Foto: Auto-Medienportal.Net/Skoda, Siemens

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