Interview mit dem Hauptgeschäftsführer der IHK Regensburg Jürgen Helmes

„Wir leben hier im Skandinavien Mitteleuropas“

Ostbayern und Westböhmen – das waren jahrzehntelang zwei vollständig getrennte Regionen, hermetisch abgeriegelt durch den Eisernen Vorhang. Und heute? Einer der stärksten Wirtschaftsräume Mitteleuropas. Jürgen Helmes ist Hauptgeschäftsführer der IHK Regensburg für Oberpfalz / Kelheim und hat viel Erfahrung, wenn es um die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Tschechien geht. Der gebürtige Kölner erzählt außerdem, welche Bedeutung ein Fluss für die „Denkrichtung“ einer Region hat, warum er meint, heute im Paradies zu leben und warum es dort dennoch einige Herausforderungen zu schultern gibt – Energie, Fachkräfte, Transformation, China und die Lieferketten…

Was steht gerade in Ihrer Arbeit als Hauptgeschäftsführer der IHK Regensburg für Oberpfalz / Kelheim ganz oben auf der Agenda? Wo brennt es?

Es brennt bei verschiedenen Themen. Wir hatten vor einem halben Jahr noch gedacht, das schlimmste und schwierigste Thema für uns alle bleiben die Energiepreise und die Energieversorgung. Damals hatten wir die schlechtesten Einschätzungen zur konjunkturellen Entwicklung, so schlimm war es noch nie. Das hat sich jetzt zum Glück alles relativiert. Die „deutsche Angst“ damals war etwas übertrieben. Trotzdem ist natürlich die Frage, wie geht es mit der Energie weiter? Wir sind da als Bayern besonders gefragt, weil Süddeutschland im deutschen Wasserstoffsystem eher abgehängt ist. Was uns außerdem antreibt, sind Fachkräftemangel und Ausbildungssituation. Und natürlich. „30 Jahre Europäischer Binnenmarkt“.

Die AHK Tschechien und die IHK Regensburg haben ein gemeinsames Büro in Pilsen. Wie präsent ist Tschechien als unmittelbarer Nachbar in Ihrer täglichen Arbeit?

Wir werden oft gefragt, was denn der USP unserer IHK ist? Eine 200 Kilometer lange Grenze zur Tschechischen Republik! Das ist ein entscheidender Faktor und wirkt sich sehr auf unsere Arbeit aus. Zum Beispiel mit der gemeinsamen IHK/AHK-Geschäftsstelle in Pilsen. Sehr präsent ist jetzt nach Corona außerdem wieder die steigende Zahl von Tschechen, die über die Grenze kommen. Im Landkreis Cham sind zum Beispiel über 10 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten tschechische Pendler, das macht schon was aus. Aber wir haben hier auch im Stadtbild viele Tschechen, die hier zum Arzt gehen, zum Einkaufen, Regensburg und die Oberpfalz besuchen. Der Nachbar ist also schon sehr präsent bei uns.

Sind die Covid-Wunden inzwischen verheilt? Da war ja noch einiges zu tun nach der ganzen Pendlergeschichte, den LKW-Schlangen usw…

Es war ein ganz tolles Signal vom Zentrum Bavaria Bohemia Schönsee, dass sie den Brückenbauer-Preis im letzten Jahr an die Pendler verliehen haben. Die haben schon sehr gelitten. Trotzdem: Das, was an der deutsch-tschechischen Grenze passiert ist, wäre an der deutsch-französischen Grenze so nicht passiert. Ich habe erlebt, was es bedeutet, wenn man zwei Generationen zu einer deutsch-französischen Freundschaft sozialisiert. Als Kölner bin ich mit dem Thema deutsch-französische Freundschaft aufgewachsen. Das haben wir bei uns schon sehr intensiv gelebt. Und von dieser engen Beziehung können wir uns hier noch eine Scheibe abschneiden.

„Die Donau gibt die Denkrichtung vor.“


Gutes Beispiel. Viel westlicher als Sie kann man in Deutschland eigentlich nicht geboren werden. Sie haben in Köln in den 80er Jahren Abitur gemacht, Ihre Ausbildung zum Industriekaufmann absolviert und VWL studiert. Wie präsent war die Tschechoslowakei damals überhaupt im tiefsten Westen Deutschlands?

In Erinnerung geblieben ist aus den Erzählungen der Eltern und aus der Schule die Niederschlagung des Prager Frühlings. Für uns war das immer das Gegenbeispiel von Freiheit. Deswegen war für uns aus westdeutscher Sicht diese Region gar nicht im Fokus, da war irgendwie die Welt zu Ende. Ein wesentlicher Aspekt war für mich auch, als ich dann von Köln hierhergekommen bin, wie stark eine Region davon geprägt ist, wie der große Fluss fließt. In Köln denkst du immer in Nord-Süd-Richtung. Du hast immer die Beziehung in die Niederlande, wo der Rhein hinfließt, und du denkst den Rhein „runter“ Richtung Bodensee. Das prägt enorm. Hier in Regensburg denkt man eigentlich immer in Ost-West-Richtung, die Donau gibt die Denkrichtung vor. Das war für mich ein riesiger kultureller Unterschied.

Hat man damals in Köln schon ein bisschen ahnen können, was sich da eigentlich für Chancen mit dem Fall des Eisernen Vorhangs eröffnen oder kam das erst später?

Das wäre das jetzt weit gesprungen, zu sagen, dass ich mir schon vor vielen Jahren einen Plan zu Tschechien gemacht hätte. Aber als ich hierherkam, war mir schnell klar, dass das eine Riesenchance ist für die gesamte Region. Einer unserer Unternehmer hat mal den Spruch geprägt: Es gibt kein stärkeres Wirtschaftsförderungsprogramm des Staates für die gesamte ostbayerische Region als die Öffnung der Grenzen.


Seit über 18 Jahren leben und arbeiten Sie hier. Wie kamen Sie denn am Anfang damit klar, vom fröhlich-karnevalistischen Köln in das nicht gerade „jecke“ Regensburg zu ziehen?

Wir sind am Anfang natürlich gewarnt worden: „Ihr werdet da verhungern, die werden gar nicht verstehen, was ihr bestellt, und das Bier wird euch nicht schmecken“ usw. Aber das ist alles Quatsch. Es war alles vom ersten Tag an viel besser als erwartet. Und das liegt nicht an der besonderen bayerischen Küche. Ich war überrascht – Regensburg ist zwar klein, aber so multikulturell, geprägt von der Universität und den ganzen Global Playern wie BMW, Conti, die Maschinenfabrik Reinhausen oder Krones. Da hat man mit Unternehmen zu tun, die weltweit unterwegs sind. Und wir haben hier ganz viele Menschen kennengelernt, die nicht engstirnig eine Regensburger-bayerische Perspektive haben, sondern wirklich weltläufig denken. Und die Menschen waren uns gegenüber von Anfang an wirklich nett, die Mitarbeiter, der Bäcker, die Leute auf der Straße. Das hat uns unheimlich geholfen.

„Es bindet die jungen Leute an die Betriebe.“


Sie setzen sich stark ein für das Thema Ausbildung. Wie schauen Sie selbst auf Ihre eigene Ausbildung zum Industriekaufmann zurück?

Eine Ausbildung ist natürlich die Vermittlung von Inhalten, Fähigkeiten und Kenntnissen, aber eine Ausbildung sozialisiert auch. Du lernst, was es heißt im Team zu arbeiten, sich gemeinsam ein Büro zu teilen. Heute unvorstellbar: In meiner Ausbildung wurde in den Großraumbüros überall noch geraucht. Aber ich habe damals sehr viel gelernt und mir hilft es bis heute. Und es bindet die jungen Leute auch an die Betriebe. Und das führt dazu, dass kaum woanders in Europa die Jugendarbeitslosigkeit so gering ist wie bei uns. Man lernt zudem, mit anderen Menschen und mit einem Chef umzugehen, sein eigenes Thema durchzusetzen oder mal zu erklären, was man da gerade macht. Das ist schon eine Schule fürs Leben. Eine Ausbildung würde ich immer empfehlen.

Was sind die Zutaten für eine gute Ausbildung heute?

Ein Betrieb muss genau überlegen, was er mit der Ausbildung überhaupt erreichen will, und ein gutes Ausbildungsmarketing haben. Ich kann das offen sagen, mein Sohn hat bei der Sparkasse angefangen, weil die „den geilsten Instagram Account“ hätten. Dann muss der Betrieb aber auch schauen, dass er sich in der Ausbildung an diese Inhalte hält, und muss auch schon während der Ausbildung Zukunftsperspektiven aufzeigen. Und in Deutschland gehört natürlich der starke Partner Berufsschule dazu.

Braucht auch die duale Ausbildung einen Refresh oder ist das alles gut so?

Nein, es braucht immer wieder neue Impulse. Wir haben z.B. gerade die Berufsbilder der Hotel- und Gaststättenberufe komplett neu geordnet und aktualisiert, mit ganz anderen Schwerpunkten – das vegane Kochen, die Digitalisierung im Umgang mit dem Kunden usw. Das bringt einen Schub, wir haben damit plötzlich so einen starken Zuwachs an Auszubildenden im Bereich der Hotel- und Gaststättenberufe wie in keiner anderen Branche. Das zweite sind die Ausbilder. Wir haben alleine in Bayern 40.000 Ausbilder in den Betrieben. Wie zeigen wir denen, dass auch der Auszubildende heute ein ganz anderer ist als vor 20 Jahren? Damit können wir als Industrie- und Handelskammer sehr gut dazu beitragen, dass die Ausbildung im Betrieb digitaler, moderner und agiler verläuft.

„… wäre ein Riesen-Schub für die tschechische Wirtschaft.“


Unsere AHK setzt sich seit zwei Jahrzehnten für die duale Ausbildung in Tschechien ein, und es will einfach nicht klappen. Warum tut sich aus Ihrer Sicht das Nachbarland so schwer mit diesem Erfolgsmodell?

Das deutsche duale Ausbildungssystem ist kein Exportschlager. Wir haben es nicht nach Frankreich, nicht nach Israel, nicht nach Bulgarien und nicht nach Tschechien exportiert. Das funktioniert nicht von selbst, das muss vor Ort jemand organisieren. In Deutschland sind laut Berufsbildungsgesetz die Kammern die zuständige Stelle. Und wenn wir im Ausland erzählen, dass man Jugendlichen Geld dafür zahlt, dass man ihnen etwas beibringt, dann wundern sich immer viele. Außerdem braucht es noch ein starkes System an Berufsschulen, da müssen viele Seiten sehr viel Geld in die Hand nehmen, und das muss sich über Jahre aufbauen. Ich glaube, die duale Ausbildung wäre noch mal ein Riesen-Schub auch für die tschechische Wirtschaft, die Industrie und den Dienstleistungssektor.

Sie haben sehr schnell, nachdem Sie hier nach Ostbayern gekommen sind, über die Grenze geschaut und ein Büro in Pilsen eröffnet. Was war für Sie der Impuls dazu?

Damals haben wir uns strategisch gefragt, wo die „wirtschaftliche Musik“ spielt – sollten wir uns Richtung Westen orientieren, um Junior-Partner von zwei starken Metropol-Regionen München und Nürnberg zu sein? Oder liegen wir nicht viel mehr in der Mitte zwischen vier Metropolen – München, Nürnberg, Prag und Wien? Wir wollten nicht nur ein Anhängsel sein, sondern mitgestalten. Heute zeigt sich, dass wir als IHK Regensburg der geborene Partner dafür sind, wenn die Bayerische Staatsregierung mit der Tschechischen Republik etwas unternimmt. Da haben wir unsere Position gefunden.


Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht das AHK-Netzwerk im Zusammenspiel mit den IHKs?

Ich glaube, es gibt kein stärkeres Asset für unsere Organisation als dieses Netzwerk, in vielerlei Hinsicht. Es macht unsere Gesamtorganisation zu einem sehr attraktiven Arbeitgeber. Wir reden über 79 IHKs in Deutschland mit mehreren tausend Mitarbeitern. Karrieren werden häufig gemacht, indem man von einer Kammer zur anderen wechselt, wie auch bei mir. Und dann das AHK-Netzwerk mit 150 Büros auf der ganzen Welt, in 94 Ländern. Das zweite ist natürlich: Wir in Ostbayern sind die exportstärkste Region in ganz Bayern! Und da bieten wir mit unserem Netzwerk den Mitgliedern einen enormen Mehrwert, mit Kontakten, Kompetenz vor Ort, Matching-Gesprächen, Infos zu Einreisebestimmungen, Zoll, Visa… Diese Informationen können unsere Mitglieder so schnell gar nicht selber organisieren. Drittens: Wer wirtschaftet, braucht auf der anderen Seite Menschen, mit denen er vertrauensvoll zusammenarbeitet. Gemeinsam mit Prag und Pilsen bringen wir Menschen auf beiden Seiten der Grenze zusammen, so dass sie gut miteinander Geschäft machen können.

Wo könnten noch diese Wirtschaftsbeziehungen Bayern-Oberpfalz-Tschechien einen Push vertragen, wo können Chancen noch besser genutzt werden?

Da geht es zum Beispiel darum, besser zu erklären, dass wir nicht die Bösen aus dem Westen sind, die Fachkräfte über die Grenze ziehen. Die Frage ist: Welche Antworten können wir gemeinsam mit der Digitalisierung auf den Fachkräftemangel geben, wie können wir Home-Office oder digitales Arbeiten auch grenzüberschreitend hinbekommen? Wie wirkt sich die Transformation der Wirtschaft auf unsere industriellen Cluster aus? Wir haben allein in der Grenzregion Ostbayern-Westböhmen eine Wirtschaftsleistung von 62 Milliarden Euro. Das ist der Politik in Bayern, die ja sonst gerne selbstbewusst auftritt, gar nicht so bewusst. Wir müssen in München noch mehr Werbung dafür machen. Und zweitens: Wir brauchen Infrastruktur-, Schienen-, und Netzausbau. Es ist noch viel zu tun.

„Das schlechtzureden wäre ein fatales Signal.“


Noch kurz zur Möglichkeit einer Volkswagen Batterie-Gigafabrik im Pilsener Raum – Chance oder Herausforderung für die Region Oberpfalz?

Das hat immer zwei Seiten. Man kann Sorgen haben, dass unseren Unternehmen dann die Fachkräfte fehlen, aber das ist einfach Wettbewerb. Am Ende muss man doch sagen: Wie genial ist denn das, wenn eine Wirtschaftsregion derart im Fokus von Weltmarktführern steht und man ihr die Kompetenz zutraut, sich so weiterzuentwickeln! Das schlechtzureden wäre ein fatales Signal.

Und noch ein Blick auf die Großwetterlage, Russland und China, die neue geopolitische Ordnung der Weltwirtschaft. Machen Sie sich Sorgen um Ihre Region?

Angst und Unsicherheit sind immer ganz schlecht für das Leben, für die Wirtschaft, für das Geschäft. Von daher ist das, was wir zurzeit erleben, auch von Seiten der Politik, nicht gut. Umso wichtiger ist es, dass die Unternehmen selbst schauen, wie sie mit der Großwetterlage umgehen. Die Frage ist auch, wie wir als Wirtschaftsstandort attraktiv bleiben. Da bin ich zuversichtlich. Nach dem World Happiness Report sind die wichtigen Dinge für eine glückliche Region die Lebensqualität, hervorragende Bildung, soziale Sicherheit, viel Natur und eine starke Wirtschaft – und das haben wir bei uns. Also eigentlich leben wir hier im „Skandinavien Mitteleuropas“. Wir brauchen jetzt eine Politik, die für eine Nachkriegsordnung strategisch die Leitpfosten so setzt, dass es für uns alle eine gute Zukunft gibt. Und da ich Berufsoptimist bin, glaube ich mal, dass alles gut ausgeht.

„Kammern so gefragt wie noch nie.“


Würden Sie noch Unternehmen empfehlen, ihre Lieferketten Richtung China aufzubauen oder aufrechtzuerhalten?

Also auch das ändert sich ja nicht von jetzt auf gleich. Aber wir müssen jetzt unseren Mittelständlern helfen, diese strategischen Entscheidungen zu treffen. Deswegen organisieren wir gerade wirklich sehr viele Veranstaltungen rund um das Thema Nearshoring, weisen auf Risiken und Gefahren hin, und analysieren, was wir wieder aus Europa heraus stemmen, wie wir die Lieferketten resilient machen können. Bei dem Thema sind die Kammern so gefragt wie noch nie.

Helmes Jürgen, Dr. rer.-pol., Diplom-Volkswirt
• *1965 in Köln
• Ausbildung zum Industriekaufmann
• Studium der Volkswirtschaftslehre in Köln mit anschließender Promotion (Studienschwerpunkte: Wirtschaftspolitik, Steuern, Betriebliche Organisationslehre)
• 1993-1997 Geschäftsführer der Europäischen Wirtschafts- und Sprachenakademie Köln
• 1995-1997 Lehrauftrag an der Fachhochschule Köln
• 1997-2004 Geschäftsführer der IHK Osnabrück-Emsland für die Geschäftsbereiche Aus- und Weiterbildung
• Seit 2005 Hauptgeschäftsführer der IHK Regensburg für Oberpfalz / Kelheim
• Verheiratet und Vater von drei Söhnen

Interview: Bernard Bauer, Christian Rühmkorf
Foto: Dagmar Gutbrod, IHK Regensburg

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