Interview mit Gundula Ullah, Vorstandsvorsitzende des BME

„Der Supply-Chain-Motor stottert“

Beschaffung und Lieferketten sind ein Unternehmensbereich, der sonst nur „hinter den Kulissen“ abläuft, für den Endkunden nicht einsehbar und auch selten relevant ist. Jetzt „genießt“ dieses Thema große öffentliche Aufmerksamkeit. Stichwort: Halbleitermangel, um nur eines von vielen Material- und Rohstoffproblemen zu nennen. Und dann kommt ab 2023 noch das „Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“ auf die Wirtschaft zu.

Frau Ullah, Ist die Corona-Krise für die Unternehmen endgültig zur Beschaffungskrise geworden?

Die aktuelle Beschaffungskrise hat nicht nur mit der COVID-19-Pandemie zu tun. Allerdings sorgt die Corona-Krise dafür, dass die Situation auf dem Beschaffungsmarkt weiter ernst ist. Von der damit einhergehenden Verknappung bei Rohstoffen und Produktionsmaterialien sind nahezu alle Industrien zum Teil massiv betroffen. Das führt beispielsweise zu fehlenden Vorprodukten im Automotive-Sektor – und damit zu langen Lieferzeiten bei den Herstellern. Die Folge ist, dass der Supply-Chain-Motor zu stottern anfängt. Viele Firmen melden derzeit Engpässe, die ihre Produktion beeinträchtigen oder sogar gefährden. Der BME hat in diesem Zusammenhang schon im März dieses Jahres den Begriff „Mangelwirtschaft“ aufgebracht. In vielen Einkaufs-Organisationen steht damit das Risikomanagement und die Absicherung der Versorgung an erster Stelle.

Was sind neben dem Halbleitermangel aktuell die größten Probleme, mit denen Beschaffungsmanager zu kämpfen haben?

Es fehlen gegenwärtig vor allem Elektronikbauteile, Aluminium, Holz, Verpackungen und Metallbauprodukte. Darüber hinaus setzen auch fehlende Container-Kapazitäten die Einkaufsabteilungen unter Druck. Die bestehenden Reisebeschränkungen machen es dem Procurement ebenfalls nicht einfach.

Welche Konsequenzen müssen Wirtschaft und Politik aus den aktuellen Beschaffungs- und Lieferkettenproblemen ziehen? Und insbesondere mit Blick auf die extrem wichtige Automobilindustrie?

Es geht um die Verbesserungen der Rahmenbedingungen. Für den Einkauf bedeutet das mit Blick auf die Zukunft, die Digitalisierung ganzer Wertschöpfungs- und Lieferketten konsequent voranzutreiben. Wichtig ist ferner eine bessere Versorgungssicherheit. Dazu müssen vor allem die Unternehmen ihre Hausaufgaben machen und ihr Risikomanagement regelmäßig den sich ständig wechselnden Anforderungen anpassen. Die Corona-Krise hat darüber hinaus gezeigt, dass Single Sourcing ausgedient hat. Abhängigkeiten von nur einem Lieferanten müssen reduziert werden. Es ist auch erforderlich, die Lieferketten aufgrund der Marktveränderungen neu und transparenter zu strukturieren. Zudem wird das Thema „Local for Local“ neu durchdacht werden müssen.

Globale Lieferketten sind eine große Herausforderung für das Qualitätsmanagement. Jetzt werden sich die Compliance-Manager intensiv mit dem neuen Lieferkettengesetz beschäftigen. Ist das Gesetz für die Unternehmen umsetzbar?

Soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit sind eng miteinander verbunden. Der BME hat schon seit 2008 eine Compliance-Initiative ins Leben gerufen, die diese Themen adressiert. Zudem wird Nachhaltigkeit ein Wettbewerbsvorteil werden. So ist es keine Frage ob, sondern wie es Unternehmen umsetzen. Unser Verband leistet hier einen wichtigen Beitrag und unterstützt seine Mitglieder mit zahlreichen Informationsangeboten. Sie reichen von Fachpublikationen über Seminare und Webinaren bis hin zu Kongressen. Zudem bieten wir interessierten Unternehmen seit neustem eine Zertifizierung im Bereich „Nachhaltigkeit im Einkauf“ an. Last but not least beschäftigt sich die EU-Kommission mit dem Thema Lieferkettengesetz.

Nachhaltigkeit wird ein Wettbewerbsvorteil

Sind die Zulieferketten für das, was die Unternehmen erwartet, zu verschachtelt und zu sehr international verzweigt, einfach unkontrollierbar?

Die Corona-Krise ermöglicht uns schon heute einen ersten Blick auf die Herausforderungen, vor denen die Lieferketten in der Zukunft stehen werden. Für Wirtschaft und Politik geht es jetzt gleichermaßen darum, darauf mit neuen innovativen Lösungen zu reagieren. Dazu gehört unter anderem, die mit Global Sourcing verbundenen Vorteile im Einkauf noch stärker für den eigenen Geschäftserfolg zu nutzen. Hinzu kommt: Der Einsatz digitaler Technologien wird künftig für erfolgreiches Lieferkettenmanagement entscheidend sein.

Welchen Stellenwert hat Tschechien als Zulieferer bei Ihren Mitgliedsunternehmen? Welches Potenzial sehen Sie für Mittelosteuropa, insbesondere für das direkt an Deutschland grenzende Tschechien, beim Thema Nearshoring?

Polen, Tschechien, Ungarn und andere Staaten Mittelosteuropas nehmen einen wichtigen Platz in den internationalen Lieferketten ein. Sie sind für das reibungslose Funktionieren der Supply Chains von großer Bedeutung. Dabei ist das Potenzial aus Sicht des BME noch nicht ausgeschöpft. Das zeigt beispielsweise die gemeinsame Einkaufsinitiative Westbalkan von BME, AHK und BMWi. Über 70 deutsche Unternehmen beteiligen sich mittlerweile daran – Tendenz steigend. Daran lässt sich das anhaltend große Interesse an Lieferanten mit Sitz in Europa ablesen. Tschechien nimmt dabei eine besondere Position ein. Das Land profitiert einerseits von seiner günstigen geographischen Lage; andererseits haben die tschechischen Betriebe in den vergangenen Jahren eine sehr gute Entwicklung vollzogen. Osteuropäische Unternehmen werden auch in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen. Nearshoring ist dabei im Kontext von Local for Local zu sehen. Die Unternehmen werden ihre Lieferanten tendenziell näher an die Produktionsstandorte ziehen. Aber wo Chancen bestehen, gibt es auch Risiken. Und gerade in der Automobilindustrie spielt zusehends die Musik in China. Nearshoring ist deshalb für europäische Unternehmen kein Selbstläufer. Das gilt für Firmen in Deutschland genauso wie für Betriebe in Tschechien, Osteuropa oder der EU.

Interview: Christian Rühmkopf

Foto: Olaf Ziegler / FUNKE Foto Services

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