Maschinen helfen, den Menschen zu verstehen
Jessica Dutz
Schreib mir einen Text von 100 Worten – und ich sage dir, wer du bist
Das verspricht die Technologie des Heilbronner Startups „100 Worte“. Gegründet haben es der Psychologe Daniel Spitzer und der Data Scientist Simon Tschürtz im April vor zwei Jahren. Der Grundgedanke: Aus Texten Persönlichkeitsmerkmale des Verfassers in Sekundenschnelle erkennbar machen. Eine Art Google-Übersetzer für die menschliche Psyche?
Vor allem Recruiting und Personalmanagement soll die auf künstlicher Intelligenz basierende Software erleichtern. Die beiden jungen Männer wollen die Treffsicherheit bei der richtigen Bewerberwahl erhöhen und damit die Zufriedenheit auf beiden Seiten. Übrigens, Sie haben als Leser soeben 100 Worte hinter sich gebracht. Die liefern schon entscheidende Hinweise für den Algorithmus, um die Persönlichkeit eines Bewerbers zu erfassen, mit 300 bis 500 Worten ließe sich aber noch präziser arbeiten, heißt es seitens des Startups.
Erfindergeist trifft auf Psycholinguistik
Entwickelt für das HR-Management ermittelt das Talent Intelligence Tool unbewusste Botschaften, Gefühle oder Bedürfnisse aus geschriebener Sprache. Psychologie trifft auf Linguistik, trifft auf Software, trifft auf HR. Das formale Anschreiben kann dem Personaler mit dieser Software also wesentlich mehr über einen Bewerber verraten als bisher. „Wir wollen den Menschen wieder ins Zentrum stellen“, sagt Firmengründer Simon Tschürtz. Mit einer Software?!? Klingt paradox, aber: Das Programm geht in seiner Analyse gerade über die harten Fakten einer Biografie – wann, wo, wie studiert oder gearbeitet – weit hinaus und öffnet die Tür zur Persönlichkeit, in Echtzeit.
Die Analysesoftware erleichtert den Personalern eine frühe Phase des Bewerbungsverfahrens, den schriftlichen „Erstkontakt“. Und genau hier passieren nicht selten Fehlentscheidungen. Selbst ein erfahrener Personaler hat schlichtweg nicht die Zeit, sich so intensiv mit dem Text eines Bewerbers zu befassen, dass er psychologisch-charakterliche Rückschlüsse ziehen kann. Eine intelligente Software verarbeitet schneller und analysiert tiefer. Und sie erhöht zudem Objektivität und Chancengleichheit. Denn Irren ist ja bekanntlich menschlich.
Wissenschaft als Basis
Die Gründer Tschürtz und Spitzer nutzen Persönlichkeitsmerkmale, die besonders in einem Arbeitsumfeld relevant sind. Ist ein Mensch eher zurückhaltend oder durchsetzungsstark, also geprägt durch Führungsmotivation? Ist er belastet oder belastbar? Wie wichtig sind ihm zwischenmenschliche Beziehungen? Ist er also ein Team-Player? Eher ein analytischer oder spontaner Charakter? „Der reine Inhalt von Sprache gibt nur 15 % unserer Persönlichkeit preis“, erklärt Psychologe Daniel Spitzer. Es ist die Struktur der Sprache, die uns mehr verrät.
Inspiriert durch den Sozialpsychologen James W. Pennebaker legt die Software besonderes Augenmerk darauf, wie Textverfasser zum Beispiel Funktionswörter, also Pronomen, Artikel, Konjunktionen oder Negationen verwenden. Es ist wie mit dem berühmten Eisberg. Nur 20 % der Sprache können wir bewusst wahrnehmen. Der Großteil liegt unter Wasser. Und genau davon will die 100-Worte-Software viel an die Oberfläche bringen. Die Datenbasis zur Validierung stammt von der Universität Erlangen und eigenen Erhebungen. Die Gründer und ihr Team erweitern diese Basis permanent.
Kein System ist perfekt
Eine perfekte Lösung für Personaler? „Jeder Persönlichkeitstest hat Fehler, doch es ist besser wissenschaftlich begründet zu handeln, als sich auf das reine Bauchgefühl zu verlassen“, argumentiert Tschürtz. Gerade bei der Verwendung von Funktionswörtern sei eine bewusste Manipulation sehr schwer. Die Macher von 100 Worte veröffentlichen regelmäßig Studien zu ihren Ergebnissen und Erfahrungen und arbeiten mit verschiedenen Unis zusammen. „Wir tun alles, um offen und transparent mit unserer Technologie umzugehen, ohne alles preis zu geben.“
Kunden wie die Versicherung Hanse Merkur oder die Carl Zeiss AG konnte das Team schon mit ihrem Talent Intelligence Tool überzeugen. Angesprochen sind vor allem Personaler großer und mittelständischer Unternehmen, die mit hohen Bewerberzahlen arbeiten. Mit der Unterstützung von Business Angels soll sich das Startup nicht nur auf dem DACH-Markt etablieren. „Ich bin guter Dinge. Nächstes Jahr wollen wir die internationale Expansion in die USA antreiben“, so Tschürtz. Und da ist es wichtig, dass die Software vielseitig ist: Kunden- und Markenkommunikation kann die Psychological AI von 100 Worte auch.